Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen, als er die Augen öffnete und sich in einem Raum wiederfand, der in sanftes, tröstliches Licht getaucht war. Um ihn herum erstrahlten Pilze in Grüntönen und Blautönen, deren ätherische Aura seine aufkommende Nervosität zu besänftigen vermochte. Doch diese flüchtige Ruhe konnte die aufsteigende Panik in ihm nicht völlig unterdrücken. Er war gerettet – so viel war sicher. Aber durch wen? Und warum?

Die Pilze verbreiteten ihr schillerndes Licht in Schweigen, während er sich bemühte, seinen Schmerz-gezeichneten Leib zu beleben. Seine Haut war übersät mit blauen Flecken und tiefen Schnittwunden. Mit einem gequälten Stöhnen richtete er sich langsam auf. Feuchte, erdige Luft füllte seine Lungen, und er sog sie tief ein, als würde er die Essenz dieser geheimnisvollen Welt einfangen.

Seine Sinne waren geschärft, lauschend auf jedes Geräusch, das Aufschluss über seine Umgebung geben könnte. In der schummerigen Dämmerung begannen seine Augen, die Konturen des Raumes zu entschlüsseln. Er bewunderte die leuchtenden Farben der Moose und Pilze, die den Raum mit einer mystischen Atmosphäre erfüllten, doch in ihm brannte eine viel dringlichere Frage: Wo war er? Wer hatte ihn hierher gebracht? Und warum hatte man ihn gerettet?

Während er sich vorsichtig umsah, fühlte er ein tiefes Unbehagen. Diese Schönheit, so verlockend und beruhigend sie auch war, konnte die schreckliche Ahnung nicht verdrängen, dass er in einer Falle saß. Diese Oase des Friedens war eine Illusion, eine Ablenkung von der bitteren Realität seiner Schwäche, ein Spiegelbild seiner absoluten Unwissenheit von der Welt, die ihn umgab und dem Körper, den er bewohnte. 

Sein Blick wanderte durch den Raum. Er bewunderte die leuchtenden Farben der Moose und Pilze, die diesen mit einer mystischen Atmosphäre erfüllten. Diese geschwungenen Bögen der Architektur, die eine harmonische Verbindung zur Natur bildeten. Jeder Blickwinkel offenbarte ein Detail von geradezu atemberaubender Schönheit, das seine Sinne gleichzeitig erfreute und verwirrte.

Wie in einem Gemälde zum Leben erweckt, tanzte das Licht durch den Raum und ließ die Schatten auf den Wänden tanzen. Es war eine Welt, die jenseits des Gewöhnlichen existierte, dies spürte er. Eine Oase der Ästhetik und des Friedens inmitten des Unerklärlichen.

Die unverhoffte Schönheit dieser Welt füllte sein Innerstes und bot ihm einen flüchtigen Moment der Vergessenheit, in dem die drohenden Gefahren dieser fremdartigen Umgebung verblassten. Doch sogleich wurde die friedvolle Szene von aufflackernden Bildern des Horrors unterbrochen. Die Kälte. Diese verunstalteten Körper. Das Schmatzen. Diese Unwissenheit, die Abhängigkeit und absolute Unfähigkeit, sich selbst zu retten – sie waren unerträglich. Er musste die Kontrolle über sein Schicksal zurückgewinnen, um jeden Preis.

Nervös zuckte er zusammen; schüttelte sich, als würde er so die Bilder los. Sein erster Versuch, sich aufzurichten, war von pochenden Schmerzen begleitet. Mit Mühe ließ er vorsichtig seine Füße über den Bettrand gleiten, doch seine eigene Schwäche überwältigte ihn, und unter seinem Gewicht brach er zusammen. Der Schmerz durchzuckte ihn erneut, schärfte seine Sinne, und in einem kurzen Moment der Klarheit versprach er sich selbst, dass er nie wieder so machtlos sein dürfe.

Mit einem gedämpften Aufprall landete er auf dem weichen Untergrund, der sich sanft anpasste und seine Form wiedererlangte. Doch das gedämpfte Geräusch hallte unheilvoll durch die Stille des Hauses. Zweifellos hatte es jeder Anwesende gehört.

Wie erwartet stampften nun schnelle Schritte nicht weit entfernt auf ihn zu. Panisch versuchte er zurück ins warme Bett zu klettern, zurück in Sicherheit, jener Ort, der ihm das erste Mal Geborgenheit geschenkt hatte. Doch noch bevor er dort ankam, flog die Tür auf und im schwachen Licht erkannte er sofort eine Strähne roten Haares, die durch das Aufreißen der Tür wie ein lebendiges Flammenmeer aufwirbelte.

Ein abrupter Ausruf ließ ihn zusammenfahren.

»Hey, Vorsicht! Nicht so hastig, mein Lieber!«, ertönte eine weibliche Stimme, die ihm seltsam vertraut vorkam. Mit der Anmut einer Raubkatze war sie im nächsten Augenblick bei ihm, hob seinen ausgemergelten Körper mühelos auf und bettete ihn zurück in die Laken. Ein angenehmer, süßlicher Duft umhüllte die Frau und zog ihn tiefer in ihre Aura des Geheimnisvollen.

»Wo … wo bin ich?«, fragte er, verwirrt und leicht ängstlich, während er in die Augen der Fremden blickte. Sie zögerte einen Moment. Der Junge bemerkte ihre geröteten Augen. Sie wirkten, als hätten sie kürzlich Tränen vergossen. Dennoch verbarg sie ihre Traurigkeit geschickt hinter einer Maske der Fürsorge.

»Du bist in Sicherheit, bei mir zu Hause. Mein Name ist Zelia«, antwortete sie mit ruhiger Stimme, die seine angespannten Nerven zu beruhigen vermochte. Ein Hauch von Vertrautheit schien in ihrer Stimme mitzuschwingen, als ob eine entfernte Erinnerung in ihm erwachte. Doch bevor er diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, wies Zelia auf einen kleinen Tisch neben ihm. Darauf stand ein großes Wasserglas und ein Teller mit einer suppenartigen Flüssigkeit.

Der kratzende Schmerz in seinem Hals, der nach Feuchtigkeit verlangte, wurde ihm plötzlich bewusst. Sein Durst war brennend, verzehrend wie ein inneres Feuer. Mit zitternder Hand griff er nach dem Glas, seine Finger krallten sich darum, als er die dringend benötigte Linderung herbeisehnte.

»Hey, hey! Mach nur langsam«, mahnte Zelia sanft und streckte eine schützende Hand aus, um ihn zu beruhigen. »Ich weiß nicht, wie lang du draußen warst. Aber übereile nichts beim Essen und Trinken. Du hast alle Zeit der Welt.« Ihre Stimme war sanft, doch unter der Oberfläche schwang ein leiser Ton der Sorge mit.

Sein Blick flackerte unruhig zwischen dem Glas Wasser und Zelia hin und her, während sein Magen wie auf einen Befehl hin unerbittlich knurrte. Er setzte das Glas an seine Lippen und nahm einen kräftigen Schluck, doch die Kraft fehlte ihm, es gerade zu halten, und das Wasser lief ihm den Hals hinunter. Doch sein Durst nach Antworten war bereits größer als der seiner trockenen Kehle.

»Was ist passiert?«, brachte er seine verwirrten Gedanken hervor. Der Ausdruck auf Zelias Gesicht verfinsterte sich schlagartig, als ob ein Schatten über die zuvor friedvolle Atmosphäre gezogen wäre. Ihre geschwollenen Augen blitzten kurz auf, gefüllt mit einer dunklen Ahnung, ihre Sorge blieb deutlich erkennbar.

»Das wollte ich eigentlich dich fragen«, erwiderte sie, ihre Stimme durchzogen von einem Hauch von Melancholie. »Aber vielleicht solltest du dich zuerst ein wenig erholen, mein Armer …« Ihre Worte versanken und wurden vom Schweigen verschluckt. Eine bedrückende Stille lag zwischen ihnen, während sich die Fragen in ihm ansammelten.

»Ich habe keine Erinnerung. An gar nichts«, flüsterte er schließlich, als ob er ein Geheimnis preisgeben würde, das nur für sie bestimmt war. Seine Verzweiflung füllte den Raum, vermischte sich mit dem Mitleid, das von Zelia ausging. »Ich halte es nicht aus. Ich muss irgendetwas wissen. Wo bin ich hier? Wo war … ich … von wo – wovor hast du mich gerettet? Was war das für ein schrecklicher Ort?«

Mit jedem Wort, das er aussprach, wuchs die Beklemmung in ihm. Sein Herz pochte wild gegen seine Brust, während sein Geist sich verzweifelt bemühte, das Rätsel seiner eigenen Existenz zu entwirren. Zelia stand nun da, ein Bild der Zerrissenheit, gequält durch das, was sie wusste, und das, was sie ihm bislang nicht offenbaren konnte.

Sie seufzte leise, eine Melodie des Mitleids in ihrer Stimme. »Ich verstehe …«, hauchte sie sanft. »Es ist vielleicht besser so … Ich fand dich vor den Toren der Stadt, umgeben von dunklen Wesen … und all den Schrecken, die Schatten Xibalbas zu bieten hat …«

Doch seine Ungeduld ließ sich nicht mehr zurückhalten. Wie ein Tier, das aus seinem Käfig zu entkommen versucht, unterbrach er sie ungestüm: »Dunkle Wesen? Xibalba? Ich verstehe nichts!« Die Verzweiflung und Frustration schwangen in seiner Stimme mit.

In Zelias Augen lag ein Hauch von Entschuldigung, als sie seine quälende Ungewissheit erkannte. Doch sie wählte ihre nächsten Worte sorgfältig.

»Vielleicht wurde versucht, dich zu entführen. Leider ist das da draußen keine Seltenheit, besonders Kinder sind oft betroffen. Wo soll ich anfangen …?« Sie hielt inne, ihre Augen irrten suchend umher, als würde sie in einem undurchsichtigen Labyrinth nach dem richtigen Pfad suchen. Schließlich schloss sie die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und murmelte unverständliche Worte – um dann wenige Augenblicke später mit einem Fokus und einer Konzentration die Augen wieder öffnete, dass es den Jungen fast zur Flucht treiben konnte.

»Dies ist Naraka. Einer der wenigen letzten sicheren Orte auf Erden. Eine Stadt tief unter der Oberfläche. Eine sichere Stadt mit mächtigen Toren. Aber vor den Toren der Stadt … nun ja. Dort sieht die Welt anders aus … Mutanten, vermutlich von der Erdoberfläche kommend, durchstreifen die Korridore von Xibalba, dem komplexen Höhlensystem, in welchem wir uns befinden … und … für gewöhnlich findet man Kinder nicht vor den Toren der Stadt an … Die Welt außerhalb der Stadt wird nur von Zu-Kur bereist. Das … das sind meist Menschen, die aus der Stadt verbannt wurden. Sie durchstreifen die Höhlen auf der Suche nach Rohstoffen, Artefakten und dergleichen … in der Hoffnung, etwas von solchem Wert zu finden, dass sie rehabilitiert werden, oder sich ein eigenes sicheres Dorf errichten können. Und dann wären da noch diejenigen, die mit den Zu-Kur Handel treiben. Jemand wie ich und -«

Sie hielt inne. Schloss die Augen. Sie schien lebhafte Bilder hinter ihren Augen zu sehen. Dann wurden ihre Augen leer. Ihr Blick wanderte zu Boden, während der Junge wie gebannt auf die Auflösung des Mysteriums wartete.  Der Druck, herauszufinden, was vor sich ging, wurde derart unaushaltbar, dass er bereits, den Mund öffnete, um sie zum Weitersprechen zu drängen, da bemerkte er eine schwere Träne, die sich schwermütig den Weg über ihre Wangen bahnte.

Die Stimmung im Raum verdunkelte sich schlagartig. Der Junge spürte instinktiv, dass etwas Schreckliches geschehen war. Hatte es mit ihm zu tun? Mit all den toten Menschen, die um ihn herum lagen? Tiefes Mitgefühl breitete sich in seinem Herzen aus.

»Es gab bisher noch nie Mutanten, die so nah am Stadttor gesichtet wurden. Und noch nie wurde berichtet, dass sich so viele an einem Ort befanden … und doch waren sie es … und du … mittendrin.«

Sie hielt erneut inne, abwägend, ob die Informationsflut den Jungen überforderte. Dieser blickte jedoch stoisch drein und öffnete emotionslos: »Da war eine Leiche mit weißen Haaren. Über mich gebeugt. Mich schützend … ohne sie wäre ich schon lange entdeckt worden … Ich verdanke dieser Person mein Leben …«

Zelia erbleichte sichtlich, als ihr Blick unweigerlich auf den Kopf des Jungen fiel und ihn von Kopf bis Fuß musterte. Ein Ausdruck des Entsetzens überzog ihr Gesicht, als sie die tiefere Wahrheit in seinen Merkmalen zu erkennen glaubte. Ihrem Blick folgend, griff er mit zitternden Händen nach oben und fuhr durch sein widerspenstiges Haar.

Als er das wirre Geflecht herabzog, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

»Waren das … meine Eltern?«, stammelte er fassungslos, während er ein Büschel weißer Haare vor seine Augen hielt, als könnte er dadurch das Unfassbare begreifen. Sein Herz klopfte heftig, als die Realität wie ein tosender Sturm über ihn hinwegfegte.

Zelia schloss die Augen, sprach nun mit einer leisen, fragilen Stimme, als wolle sie ihm eine schmerzliche Wahrheit schonend überbringen:

»Weiße Haare gibt es hier unten nur äußerst selten. In unserem düsteren Reich gehören sie den alten Weisen, den Verstorbenen und … ganz besonderen Menschen.« Ihre Stimme trug einen mysteriösen Unterton.

Der Junge spürte eine Welle der Verwirrung und des Staunens in sich aufsteigen. Wer waren seine Eltern wirklich? Welches Geheimnis verbarg sich hinter den weißen Strähnen seines Haares?

Tief in seinem Inneren fühlte er, wie das Rätsel seiner Existenz sich weiter entfaltete und er den schicksalhaften Geheimnissen von Naraka immer näher kam. Diese mysteriöse Stadt verbarg mehr als nur die Dunkelheit der Höhlen und die Bedrohung durch die Mutanten; sie umfasste die Essenz seines Selbst, die in den weißen Strähnen seines Haares verborgen lag.

Vor der Tür des Raumes saß Taoh, sein Körper eine angespannte Silhouette gegen das flackernde Licht, das durch den schmalen Spalt der Tür drang. Dort hockte er, sein Herz ein wilder Trommelschlag in der Brust, während er in der erdrückenden Stille lauschte. Jedes Geräusch, das leise Flüstern von Zelia, der ungleichmäßige Atem des Jungen, war ein Stich in seine Seele. Wie konnte sie, seine geliebte Mutter, diesem verfluchten Kind ihre Nähe schenken? Der bloße Anblick des Jungen ließ ihn frösteln.

Diese weißen, dämonisch wirkenden Haare, die ihm zu Berge standen. Die braune, fremdartige Haut. Und seine Augen, ein tiefes, unheimliches Grün, schimmernd in der Dunkelheit, als würden konstant geheime Kräfte durch sie fließen. Es musste Kymatik sein. Aber, wofür? Hatte er Zelia bereits verflucht? Was war seine Kraft? Vielleicht war er ein Mutant? Ein Mutant in Kinderform? Eine optische Täuschung. Konnte Zelia nicht sehen, dass seine Kymatik scheinbar nie ruhte?

Dieses verunstaltete Wesen sollte nun an Eladans Stelle in ihre Familie aufgenommen werden? Hass und Abscheu brodelten in Taoh auf, seine Fäuste ballten sich, die Sehnen an seinem Arm traten hervor, während die Dunkelheit seine Gedanken verschlang.

Derweil war die Stimme des Jungen leise, fast ein zartes Flüstern in der dichten Stille des Raumes:

»Ich glaube, es war ein Mann … Ich sah ihn … Sein lebloser Körper war mein einziger Schutz … Vermutlich … Mein Vater.«

Seine Augen glänzten feucht, als sie durch die Dunkelheit zu schneiden suchten, als könnten sie dort verlorene Antworten finden.

»Es ist merkwürdig, ich kann mich an nichts erinnern, aber ich fühle … ich fühle eine tiefe Verbundenheit. Es berührt mich zutiefst, zu wissen, dass mich jemand so sehr geliebt haben muss, dass er sein Leben schützend für mich gab. Wenigstens das spüre ich in meinem Herzen.«

Die Stille, die seinen Worten folgte, atmete förmlich, pulsierend mit ungesagten Gefühlen und Gedanken. Taoh stand mit geballter Faust und knirschenden Zähnen im Schatten, sein Blick fest auf den Eindringling gerichtet, die Worte wie Gift in seinen Adern. In diesem Moment platzte er kochend vor Wut durch die Tür.