Taohs Herz setzte einen Schlag aus, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ama – was ist passiert?«, schrie er, von panischer Sorge getrieben. Er rannte auf sie zu, seine Schritte unsicher auf dem unebenen Boden.
Zelia war außer Atem, ihre Augen wild und verzweifelt. »Der Obsidian, Taoh! Wo ist er?«, fragte sie dringlich. Doch noch bevor Taoh antworten konnte, erinnerte sie sich an die düsteren Visionen des Bardos, an die Träume, die sie heimgesucht hatten. Weinend fiel sie auf die Knie und umarmte ihren Sohn.
»Hör zu, mein Schatz. Es ist alles gut. Mir geht es gut. Das Blut ist nicht meines«, erklärte sie mit zitternder Stimme. »Ich wurde überfallen. Ich brauche den Obsidian, um uns verteidigen zu können!« Ihre Umarmung war fest, aber kalt. Ein grausamer Schock überkam sie, als sie erkannte, dass ihr Herz noch immer von einer eisigen Leere erfüllt war. War dies der Preis ihres Überlebens? Konnte sie wirklich ihre Familie schützen, wenn sie nichts mehr fühlte?
Taoh war wie gelähmt vor Panik in ihren Armen. »Ver ... Verteidigen? Überfall?«, stammelte er. Seine Gedanken wirbelten in alle Richtungen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Der Obsidian, Taoh!«, wiederholte sie eindringlich. Taohs Hand erhob sich zitternd, und er deutete auf Atlans altes Zimmer. Zelia stand auf und eilte durch die Tür, wo sie Kamura und einen jungen Mann mit weißem Haar erblickte. Gänzlich fassungslos standen die beiden am Fenster, durch das laute Hilfeschreie drangen und die Luft mit einer Atmosphäre des Terrors erfüllten.
»Was ist passiert?«, fragte Kamura entsetzt, als er Zelia mit dem zerschundenen Gesicht, dem angeschwollenen Auge und den blutverschmierten Kleidern erblickte. Ihr Haar war in einem tiefen Rot getränkt und verlieh ihr eine fast dämonische Präsenz.
»Keine Zeit! Wo ist der Obsidian?«, drängte Zelia ungeduldig.
Geschockt zeigte Kamura auf den Boden, wo einige Obsidiansplitter lagen. Zelia sammelte jedes einzelne Stück hastig auf. »Das sind nur sechs ... wir brauchen mehr!«
Kamura brauchte einen Moment, um die Situation zu verarbeiten. Dann begriff er. Zögerlich zog er seine Kette vom Hals und warf sie Zelia zu. »Zwei, vier, sechs ... das macht zwölf Stück fürs Erste. Haben wir noch einen Vorrat?«, fragte Zelia ungeduldig.
Draußen brach etwas ohrenbetäubend zusammen. Panische Todesschreie drangen in den Raum und ließen Zelia den Magen umdrehen. Die einst fröhlichen Laute von spielenden Kindern waren wie ausgewechselt – als würden dieselben unbeschwerten Kinder in größter Agonie schreien und weinen. Die Übelkeit überkam sie bei diesen herzzerreißenden Schreien der Qual. Sie taumelte benommen ins Bad.
Taoh war noch immer an der Tür zusammengesackt, wo Zelia ihn zurückgelassen hatte. Er blickte panisch zu Kamura, der ebenfalls seine Angst nicht verbergen konnte und sich beschämt abwandte. Innerlich kämpfte er mit sich selbst: 'Du kannst nicht immer so viel Schwäche zeigen. Taoh braucht Dich! Sei ein großer Bruder. Sei ein Vorbild.'
Doch die Panik in ihm wuchs weiter. Er winkte Taoh zu, zu ihm zu kommen. Dieser verharrte jedoch regungslos. Kamuras Blick wanderte wieder aus dem Fenster. Die Schreie draußen nahmen kein Ende. Er analysierte die Lage genauer. Woher kamen die Schreie? Wie aufgescheuchte Ameisen liefen unzählige kleine Figuren in Panik umher, als wüssten sie nicht, wohin sie flüchten sollten. Die meisten Schreie stammten vom Titanpilz.
Dieser war noch immer von Staub und Rauch umhüllt. Vermutlich war indessen zu allem Überfluss noch ein Feuer darin ausgebrochen! Ein Feuer in der Höhle – das könnte das Ende der ganzen Stadt bedeuten. Feuer war innerhalb der Stadt verboten, doch aufgrund der dürftigen Lichtquellen und der fast schon götzenhaften Besessenheit von allem, was leuchtet und strahlt, hielten sich viele nicht an diese Regel. Die Oberstadt wurde vermutlich bereits evakuiert. Die Luft würde bald kippen und giftig werden. Eine Lösung musste sofort her.
Zelia war bereits wieder aus dem Bad gekommen. Ihr Gesicht bleich, zerschrammt – doch wenigstens frei von Blut. Den Mantel hatte sie abgelegt. Sie sah trotz allem grauenhaft aus. Der bloße Anblick ließ ungeheure Schmerzen vermuten. In schauderhafter Stille humpelte sie durch den Raum, gesellte sich neben die anderen zwei und blickte aus dem Fenster. Was Kamura die letzten Minuten analysiert hatte, erkannte sie im Bruchteil einer Sekunde.
»Verlasst auf keinen Fall das Haus. Sie suchen den Jungen. Versteckt ihn. Öffnet nicht die Tür. Schaut nicht aus dem Fenster! Packt das Nötigste, was ihr tragen könnt«, befahl sie und kehrte sich bereits um, um zu gehen.
»Bitte geh nicht!«, bettelte Taoh sofort.
»Ich muss gehen, Taoh. Ich könnte nicht damit leben, wenn ich es nicht tue«, antwortete sie bestimmt, aber vorsichtig, um keine weitere Panik in ihm auszulösen.
»BITTE NICHT! NICHT AUCH NOCH DU! NICHT SO! NICHT SCHON WIEDER. WIESO KÖNNT IHR NICHT LEBEN, OHNE UNSERE FAMILIE ZU ZERSTÖREN?«, schrie Taoh verzweifelt.
»Ich werde zurückkehren, Taoh! Ich verlasse euch um keinen Preis! Doch hier zu verharren bringt absolut gar nichts, wenn wir alle ersticken«, fügte sie liebevoll hinzu. Sie band ihr Haar zu einem strengen Zopf, schlüpfte in einen neuen, großen Mantel und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht – dann stürmte sie an ihm vorbei, aus der Tür, die sanft zuschlug.
Taoh blieb erneut allein zurück. Sein glasiger Blick wurde kalt, vollkommene Resignation breitete sich in ihm aus. Als würde ein finsterer Gedanke ihn wieder zum Leben erwecken, fixierte er im nächsten Augenblick erneut Tammuz. Er bohrte seinen Blick in ihn hinein, doch Tammuz erblickte diese finsteren Augen und wandte sich sofort ab.
Stattdessen widmete sich Tammuz diesem neuen Puzzlestück seiner Existenz, das für sich allein schon wieder ein gänzlich neues Puzzle war. Jede Frage, jede Antwort war nur ein weiteres, größeres Rätsel. Wieso wurde er gesucht? Passierte all dies ... seinetwegen? Er ging vom Fenster weg – wie aufgetragen, legte sich geistesabwesend ins Bett und drückte sich die Kissen gegen die Ohren, um die Schreie nicht hören zu müssen. Diese Schreie ... ihm gewidmet, wie ein Konzert aus der tiefsten Hölle.
Kamura sah bereits Zelia aus dem Haus stürmen. Er platzierte sich vorsichtig an einer Ecke des Fensters, sodass nur noch ein Auge aus dem Fenster spähen konnte – lediglich für den Fall, dass sie hochsehen und ihn erwischen würde, wie er sich ihren Anweisungen widersetzte. Doch er konnte nicht anders. Er konnte unmöglich seine Mutter allein da draußen ins Verderben laufen lassen. Innerlich war er bereits darauf eingestellt, beim kleinsten Anzeichen aus dem Haus zu stürmen.
Es wurde schwer, Zelia in dem Chaos im Blick zu halten. In den Rauchschwaden schienen Lichtblitze aufzuleuchten. Wurde dort etwa gekämpft? Eine alte Dame stolperte ihr in die Arme, flehte sie an, fiel auf die Knie.
Im nächsten Moment ging Zelia auf die Staubwolke zu und verschwand in ihr.
Kamura stockte der Atem. Was sollte das? Von allen Orten ... ausgerechnet dieser?
Einige Augenblicke später kehrte sie zurück, keuchend, Rauch aushustend. Einen schweren Sack in den Armen. Ein Körper. Leblos? Sie rannte zur Frau, legte den Körper ab und verschwand im selben Moment sofort wieder in den Rauch, der bereits untrennbar mit dem aufgewirbelten Staub eine Einheit bildete. Innerhalb der Rauchschwaden, wo der gefallene Titanpilz liegen musste, blitzten erneut orange Blitze auf. In schneller Abfolge. Immer wieder. Was auch immer es war – es bewegte sich! Falls das ein Kampf war, kam er der Stelle, an der Zelia verschwunden war, gefährlich nahe.
Kamura vergaß vor Anspannung das Atmen. Doch Zelia trat erneut aus dem dichten Rauch heraus. Etwas stimmte nicht. Sie war langsam, schwach. Sie trug erneut etwas über die Schulter geworfen. Wüsste Kamura nicht, dass es vermutlich ein Körper war, hätte er es für einen Haufen Kleidung oder einen Sack gehalten, so leblos hing es von ihrem Rücken. Keuchend fiel sie zu Boden. Die alte Dame von vorher schrie, weinte. Sie beugte sich über den Körper, schüttelte ihn und ließ Zelia kraftlos auf dem Boden liegen! Eine unvorstellbare Wut kam in Kamura auf. Menschen liefen panisch an ihr vorbei, keiner schenkte Zelia Beachtung. Gerade als er aufspringen wollte, erhob sich Zelia erneut.
Keuchend. Aus dem Rauch blitzten noch immer orange Blitze, ein allgegenwärtiges Zischen breitete sich aus. Stand eine weitere kymatische Explosion an? Wo blieben die Kymisten? Die Feuerkämpfer? Alles versank im Chaos. Und seine Familie sollte dies erneut ausgleichen? Sein Blick wanderte erneut zu Taoh. Er fühlte so sehr mit ihm. Sofort schaute er wieder zu Zelia, die sich bereits auf direktem Weg in Richtung Rauch bewegte. Er wollte schreien – GEH NICHT – doch sie hätte ihn wohl nicht gehört, oder würde er für den Rest seines Lebens bereuen, es nicht versucht zu haben?
Zu seiner Erleichterung konnte er plötzlich kleine Teile des gefallenen Titanpilzes erhaschen. Der Rauch schien weniger zu werden, während das Zischen lauter wurde. War ein Löschvorgang im Inneren im Gange? Waren die Kymisten bereits dort?
Im nächsten Moment hörte er ein erneutes Knacken. Etwas sank ab. Es war der Titanpilz selbst. Der Boden brach unter seiner Last. Ein ohrenbetäubender Knall, Schreie. Ein ungeheurer Luftdruck, der den Rauch und Staub von sich trug, und dann offenbarte sich das volle Ausmaß der entsetzlichen Szenerie vor Kamuras Augen.
Der Titanpilz war durch die Wucht des Aufpralls zerschellt, zerdrückt und zusätzlich noch unzählige Meter in den Boden eingebrochen. Niemand innerhalb des Pilzes konnte überlebt haben. Myzel mochte leicht sein, doch bei dieser ungeheuren Menge – in sich selbst zerfallen – war es ein sicheres Grab für alle Eingeschlossenen. Und dennoch – Zelia rannte erneut auf die Trümmer zu – als würde sie noch immer Rufe hören. Tatsächlich griff sie in einen schmalen Spalt, zwischen dem Titanpilz und dem weggebrochenen Steinboden.
Entsetzt erblickte Kamura kleine, zarte Hände, die aus dem Spalt ragten. Die Panik war bis zum Fenster spürbar. Waren dort Menschen eingeklemmt? Die Feuer schienen weitestgehend gelöscht, dennoch stiegen hier und dort noch Rauchschwaden auf, und da Myzel entflammbar war, war es nur eine Frage der Zeit, bis es sich erneut entzünden würde.
Zelia zog mit aller Kraft, konnte jedoch keinen weiteren Körper bergen. Es gab keinen anderen Weg. Kamura musste sich entscheiden. Ein letzter Blick zu Taoh – doch sein Entschluss stand fest: Auch er konnte bei dieser Szenerie nicht zusehen. Dies wurde ihm schmerzlich bewusst, und im Moment der Erkenntnis fühlte er sich, als würde er Taoh im Stich lassen – als würde er ihn verraten. Allein gelassen in einer Welt, in der jeder ihm den Rücken zukehrte, um die Welt zu retten, und er am Ende übrig bleiben würde? Doch es änderte nichts.
Kamura rannte in die Küche, schnappte sich ein Messer und eilte in Eladans Arbeitszimmer. Er zog am Muster verzierten Teppich und rammte das Messer gezielt auf eine Stelle im Myzel. Er schnitt ein Quadrat heraus und hob das quadratische Stück Myzel ab.
»Was machst du da? Was ist das?«, fragte Taoh, der ihm bereits auf leisen Sohlen gefolgt war.
»Hier bunkert Aba seine Artefakte, die auf dem Markt besser nichts zu suchen haben ... solche, die besser nur in die Hände würdiger Kymisten und Zu-Kur gelangen sollten. Myzel wächst schnell zu. Ein schlaues Versteck, wie man es von Aba kennt ...«, erklärte Kamura.
»Aber du kannst so was doch gar nicht bedienen?«, widersetzte sich Taoh.
»Ich weiß ... aber das Wissen um meine Unfähigkeit hilft gerade keinem. Ich muss es versuchen! Da draußen sterben gerade viele Menschen. Nachbarn, vielleicht unsere Freunde. Ich kann hier nicht Babysitter spielen für einen Jungen. Das Leben eines Jungen ist nicht mehr wert als das von jedem anderen da unten.«
»Aber Ama hat gesagt –«
»Er hat recht«, flüsterte es von hinter Taoh. Tammuz hatte sich wieder erhoben.
»Und wenn es wahr ist, dass sie nach mir suchen – dann muss das jetzt ein Ende haben! Ich komme mit dir – ich halte es nicht aus. Diese Schreie. Sie machen ... Sie machen, dass ich sterben will. Ich kann es nicht ertragen. Wenn es meinetwegen ist – es muss aufhören!«, sagte Tammuz mit einer solchen Qual und Entschlossenheit in den Augen, dass Kamura für einen Augenblick vermutete, ob er den ängstlichen, zerbrechlichen Jungen nicht gespielt haben musste.
Kamura, der keine Zeit verlieren wollte, öffnete bereits eine verzierte Holztruhe mit allerlei merkwürdigen kymatischen Apparaturen darin. Allesamt in wunderschönen und doch merkwürdig geschwungenen Formen und Größen, als gehörten sie einer anderen Zeit an – fast, als seien sie für völlig andere Körperformen geschaffen.
»Ich kann dich verstehen – aber die Anweisungen meiner Mutter waren klar! Wenn hier gerade ein Krieg ausbricht, dann scheint deine Existenz von großem Wert zu sein«, antwortete Kamura abgelenkt, während er eines der länglichen kegelförmigen Objekte mit den kymatischen, schlangenhaften Mustern aus schwarzem Metall in der Hand hielt und es begutachtete.
»Du hältst dich doch selbst nicht an ihre Anweisung!«, trotzte Taoh kühn. »Ich bleibe garantiert nicht allein hier, mit diesem ... verfluchten Unglück bringenden!«, fügte er abfällig hinzu, ohne Tammuz eines Blickes zu würdigen.
»Wollen wir mal sehen ...«, nuschelte Kamura, während er das Objekt gegen das Licht hielt. »Nicht geladen ... egal ... was muss, das muss!« Mit diesen Worten stand er auf, ging Richtung Tür und schritt an Tammuz und Taoh vorbei.
Kurz vor der Tür hielt er kurz inne.
»Dies ist eine von jenen schicksalshaften Situationen, von denen Aba so oft gesprochen hat. Ich weiß nicht, welchen Traum ihr beiden teiltet – Aba wollte doch, dass wir uns in solchen Momenten richtig entscheiden. Ich habe mich entschieden. Ich werde Ama helfen und die Leben der Menschen da draußen retten. Ihr seid noch jung. Vielleicht zu jung, um die Tragweite solcher Entscheidungen zu begreifen. Dennoch kann ich euch diese Entscheidung nicht abnehmen. Sobald ich diese Tür verlasse, seid ihr eures Glückes Schmied und mein Einfluss versiegt. Wisst nur eines: Eure Entscheidung, dort herauszugehen – sie könnte erst recht weitere Opfer fordern, vielleicht sogar das Schicksal dieser Stadt dem Untergang weihen. Wisst ihr warum?«, Kamura neigte seinen Blick noch ein letztes Mal zu ihnen, die Augen bereits in türkisfarbenen Flammen entzündet.
»Weil ihr euch eurer Schwäche nicht bewusst seid. Die Fragilität des Lebens nicht begreift. Denn würdet ihr das tun – nur einen Moment vernünftig nachdenken – dann wüsstet ihr: Es gibt absolut nichts, was ihr da unten gerade tun könntet, außer die Lage zu verschlimmern. Ihr habt nichts von Wert beizutragen in dieser Situation. Lasst es euch eine Lehre sein, auf dass ihr beim nächsten Mal zu mehr in der Lage seid, wenn eure Nächsten euch brauchen!« Ein Hauch Verachtung klang aus seiner Stimme. Mit diesen Worten schritt er aus der Tür und ließ sie hart hinter sich zufallen.