»Bei allem Respekt, o Herr, auch ich bin in der Auslesung bewandert!«, verkündete Laveau mit einer subtilen, aber unverkennbaren Arroganz in ihrer Stimme.

»Du hast für heute genug angerichtet«, bellte Tokat zurück, seine Stimme von unterdrücktem Zorn getränkt, der wie ein schleichendes Gift die Luft erfüllte.

»Sie scheint eine direkte Verbindung zum Schläfer zu haben!«, entgegnete Laveau hastig, in einem verzweifelten Versuch, ihre Nützlichkeit zu betonen. »Während der Versammlung wurde sie bei diesem Thema ungewöhnlich emotional. Sie müssen sich sehr nahe stehen!«, fügte sie hinzu.

»Wie bereits befohlen, wird ein spezialisierter Aurane diese Angelegenheit untersuchen. Wir werden sehen, welches Muster diese eigentümlichen Zufälle ergeben. Falls Yaga in ihrer Zeit als Anführerin dieser Verschwörer Informationen zurückgehalten hat, werden wir sie niemals aus ihrem Geist extrahieren können. Doch es ist auffällig und riskant, zwei Mitglieder aufzunehmen, die ihre gegenseitige Identität kennen. Schließlich konnte sie durch den Nebel blicken. Es war ihre Kreation. Für solch schwere Verstöße gibt es oft nur einen Grund: die Liebe.« Tokats Stimme war nun eiskalt.

Ein Kloß bildete sich sofort in Zelias Hals, drängend und unerbittlich. Das Bedürfnis, ihn hinunterzuschlucken, wuchs zu einer unermesslichen Dringlichkeit an. Nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick, da sie im grellen Licht der Verschwörung stand. Mit eiserner Disziplin zerrte sie ihren Geist ins Hier und Jetzt zurück, entfachte die Flammen ihrer Gedanken, die jede Empfindung erstickten.

Ihre Konzentration musste absolut sein, jede Ablenkung konnte sie verraten und ins Verderben stürzen.

»Moment, ich kenne diese Frau«, sagte Laveau plötzlich. »Es ist die Lebensgefährtin des Händlers: Eladan!«

Zelias inneres Feuer musste weiter brennen, es gab keinen anderen Weg. Jede Faser ihres Seins musste in Flammen stehen, um ihre Tarnung zu wahren.

»Eladan?«, rief Tokat erschrocken aus, unverhohlene Verwunderung schwang in seiner Stimme mit.

»Ja, der Händler der Zu-Kur! Draußen vor den Toren der Stadt! Kennt Ihr ihn?«, bohrte Laveau nach, ihre Stimme ein stetiger Tropfen, der die Steinmauer des Schweigens durchbrechen wollte.

Tokat zögerte, seine Gedanken rasten. »Das ergibt keinen Sinn! Ich habe bereits mit ihm zusammengearbeitet ... könnte er ...?«, murmelte er, seine Worte verloren sich in der bedrückenden Atmosphäre.

Schritte hallten durch den Korridor.

»Herr, habt Ihr nach mir gerufen?«, drang schließlich eine fremde, durch die Dunkelheit.

»Wir haben einen wertvollen Fang gemacht. Die Zielperson ist Teil dieser Verschwörung. Verhört sie«, befahl Tokat.

Was nun? Sie befand sich in einer hoffnungslosen Lage, gelähmt, am Rande des Abgrunds, umgeben von Feinden, die ihre geistige Präsenz witterten wie hungrige Raubtiere. Schritte näherten sich.

Vor ihr materialisierte sich eine Präsenz, ein bedrohlicher Schatten, der die Dunkelheit durchbrach.

Plötzlich wurde sie von einem Sog erfasst. Ihre Realität, ihre Wahrnehmung, ihr Bewusstsein schienen gewaltsam nach außen gezogen zu werden, ihrem Körper zu entrinnen wie Rauch, der in die Leere entweicht. Eine unvorstellbare Kraft, die sie gewaltsam aus dem Bardo riss, zerrte an den Fäden ihrer Existenz. Gedanken wurden ihr wie durch den Magnetismus ihrer Seele entrissen.

Sie verstärkte das Feuer in ihrem Inneren, ein letzter verzweifelter Akt des Widerstands. Sie erinnerte sich an die Lehren, die Übungen mit Gidim-Zu. Doch nichts konnte sie auf diesen Moment vorbereiten: der Schmerz, der Verlust, der Grenzzustand am Bardo, das Feuer des Geistes, das Zen, die Kontrolle ihrer Herzfrequenz. Wie sollte sie all dies gleichzeitig aufrechterhalten, während die Realität sich gegen sie wandte?

Fluten von Bildern durchzuckten ihren Geist, ein überwältigender Strom von Erinnerungen und Visionen. Überwältigend. Unbarmherzig. Und in dieser hoffnungslosen Situation, das Lächeln. Dieses letzte Lächeln, das die Zeit überbrückte, ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit.

»In deinem Herzen findest du mich«, hallte es in ihr nach, eine Stimme aus den Tiefen ihres Seins. Sie folgte diesem Ruf, klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsanker. Und da war er. Seine Essenz, lebendig und kraftvoll.

»Ich brauche dich!«, schrie ihre Seele in den luftleeren Raum. 

»Geh nicht weiter. Verharre, wo du bist!«, hallte es in der Leere entgegen. Ein euphorischer Stoß pumpte durch ihren Körper, ein elektrisierendes Gefühl, das sie aufrichtete. »Du bist an der Schwelle. Einen Schritt weiter und alles war umsonst. Einen Schritt zurück und sie werden es sehen!«, drang es wortlos zu ihr, reine Information ohne Ursprung und räumliche Zuordnung. Unendliche Sehnsucht überkam sie.

Doch ein neuer Sog, intensiver, zog an ihrem Geist, ihren Gedanken, ihrem Sein. Plötzlich ein Bild: ihr Heim, der Duat. Atlan, Kamura, Taoh, Eladan! Lachend in diesem beengten Zimmer, ein Moment reiner Glückseligkeit. Sie waren alle so glücklich. »STOPP!«, hallte es in ihrer Seele wider, ein scharfer Befehl, der durch die Illusion schnitt.

»Sie sehen zu! Lass es brennen, Liebling. Gleich deines roten Haares!« Tränen sammelten sich. »Lass es brennen! Lass los!«, wiederholte die tonlose Stimme, dringlich und unnachgiebig. »Ich kann nicht. Bleib bei mir!«, flehte Zelia, ihre Stimme ein ersticktes Wimmern in der Dunkelheit.

Doch in diesem Moment ein neues Bild. Erneut Taoh. Angsterfüllt. In der Dunkelheit gefangen, seine Augen weit aufgerissen vor Schrecken.

»Schweig! Antwort nicht. Jede Antwort ist ein Gedanke. Lösche deine Gedanken. Verschließe dein Herz, mein Schatz. Verschließe dich vor uns. Du musst. Lass es brennen. Ansonsten ist alles verloren. Alles umsonst. Du musst verharren. Und loslassen! Verschließe dein Herz.«

Ein letzter Blick auf ihre Gesegneten, ihre Welt, ihre Liebsten. Sie ließ es erneut brennen, ein inneres Inferno, das die Flammen in ihrem Geist neu entfachte. Der Raum begann, Flammen zu fangen, die heiß und gierig alles verschlangen. Der Tisch, die Wände, Atlan, Eladan, Kamura – alles brannte in einem apokalyptischen Schauspiel. Sie musste es ertragen. Sie musste! Doch plötzlich wurde das Feuer von etwas weitaus Stärkerem verdrängt: Kälte breitete sich aus. Ihr Herz, unfähig, das Leid zu ertragen, verschloss sich. Kälte. Nichts als Kälte und Leere. Ihr Herz empfand nichts mehr, ein frostiger Abgrund, in dem jede Emotion erstickte. Das Bedürfnis zu sterben, diese sinnlose Welt hinter sich zu lassen, kroch in ihre Gedanken. Doch sie verharrte an der Schwelle des Seins, ein Anker in der Dunkelheit.

»Diese Frau ...«, begann der Aurane, seine Stimme klang wie ein ferner Donnerschlag, »sie ist gebrochen, kaum am Leben! Sie ist an der Schwelle des Todes. Sie sollte sofort einem Heiler zugeführt werden!«. 

»Löst die Ketten, Laveau!«, befahl Tokat. Im nächsten Moment fiel sie zu Boden. Sie sank hinab, ein freier Fall durch die Leere, die sie umgab. »Lass los«, hallte es ein letztes Mal nach, ein Befehl, der sich in ihrem Geist festsetzte. Und ihr Körper klatschte schmerzvoll auf den kalten Stein, ein harter Aufprall, der durch die Stille hallte. Doch sie empfand nichts, war ihrem Körper, ihrem Schicksal entfremdet. »Und nun: KÄMPFE!« Ihr Gesicht wurde warm, Blut lief ihr über das rechte Auge.  Doch sie blieb weiterhin unberührt. Kalt und leer.

»Beinahe hast du sie getötet!«, schimpfte Tokat. »Dein Versagen kennt keine Grenzen!«

Laveau schwieg, beschämt. Dann widersprach sie schließlich:

»Sie musste schweigen. Es gab keine Wahl! Das Aufspüren von Chakra obliegt eurer Fähigkeit.« Kurze Stille. »Bei allem Respekt, oh Herr!«, fügte sie hinzu.

Zelia löste sich vom Bardo, trat wieder ein ins Hier und Jetzt, wie ein Schatten, der aus der Tiefe auftaucht. Behutsam glitten ihre Finger zum Mantel, eine vorsichtige Bewegung, die im Verborgenen blieb. Der Nebel war gelöst, dennoch könnte es reichen, ihre Handlung zu verbergen. Nur diese paar Sekunden. Die wichtigsten Sekunden ihres Lebens. Ihre Hand umschloss schließlich eine der Nadeln, fragil – und dennoch von enormer Durchschlagskraft, wenn in den richtigen Händen: in ihren Händen.

Ihr Herzschlag und Blutdruck waren gleichsam ruhig. Ihr Zutun war nicht mehr nötig, nur die Empfindungen eines Geistes, der den Körper in diesem Moment überwunden hatte. Doch – wo war ihr Ziel? Wer war ihr Ziel?

»Nehmt sie mit!«, befahl Tokat schroff, seine Stimme ein unerbittlicher Befehl. Schritte näherten sich eilig, ein rhythmisches Stampfen, das durch die Dunkelheit drang. Zwei, drei Personen. Wie viele waren in diesem Raum? Zelia spürte die Präsenz, das Gewicht ihrer Blicke, die Luft vibrierte vor Spannung und drohender Gewalt. Sie wusste, dass der nächste Moment über Leben und Tod entschied.