Für einen Moment hielt sie inne. Der faule Geschmack begann bereits, sich langsam auf ihrer Zunge auszubreiten, begleitet von ersten Impulsen, diese Abscheulichkeit herauszuwürgen. Doch wie gebannt blickte sie stattdessen auf diese mysteriöse, kleine Kapuzengestalt mit den schimmernden grünen Augen.

Zuerst wurde ihre Zunge taub. Der Schmerz ließ bereits nach. Ihr Kopf wurde leicht und erwärmte sich. Als dann das bleiche Licht des Unbekannten sich über das Schlachtfeld ergoss, wo das Chaos der sterbenden und kämpfenden Seelen hallte, fand das Mädchen, dessen unterer Leib unter der gewaltigen Last eines der Trümmer zerquetscht war, einen Funken von verzweifelter Entschlossenheit. 

Ihr entging nicht die Ansammlung eines trüben, düsteren Nebels, der ihr die Kehle zuschnürte und ihre Gedanken im Fieberdelirium umspulte. Die grünen Augen schienen an Intensität zu gewinnen, und für einen Moment fühlte sie, als würde sich eine Verbindung zwischen ihnen auftun. Es war, als wenn ausschließlich und allein diese Augen tatsächlich mit ihr mit fühlten. Alle anderen waren damit beschäftigt, sie zu dem zu bewegen, was sie für richtig hielten. Diese Augen kannten den Abgrund, diese Augen waren bereits in einer ähnlichen Situation: Schutzlos. Allein. Machtlos. Und doch stand diese kleine Figur dort, mitfühlend, hoffend.

Etwas in diesem Blick war so voller Mitgefühl, als würden nur diese Augen die Verzweiflung und ihre Lage wirklich nachvollziehen können. Augen, die selbst bereits in den tiefen Schlund der Aussichtslosigkeit geblickt haben mussten. Augen, die sie im Gegensatz zu allen anderen Augenpaaren weiterhin nicht insgeheim aufgegeben hatten. Oder war dies die bereits beginnende Wirkung des ēru-mūtu Pilzes?

In diesem kurzen Moment der trüben Klarheit und des rasenden Entsetzens des Gefühls, ihr Kopf füllte sich bereits mit jeder Sekunde mehr und mehr mit heißer Luft an, entschied sie sich, den gräulichen Pilz von der Wurzel ihrer Vernichtung auszuspeien und somit ihrem düsteren Schicksal furchtlos die Stirn zu bieten. Sie spuckte den unzerkauten Pilz mit aller Kraft aus.

War es der faulige, unerträgliche Geschmack des Todes, die bereits beginnende, betäubende Wirkung des Pilzes – oder das plötzliche Mysterium dieser fremden Gestalt, das sie lüften wollte, sei es auch nur diese letzte drängende Frage – sterben war keine Option. 

Zelia bemerkte als Erstes, dass etwas nicht stimmte. Dem Blick des Mädchens folgend, offenbarte sich ihr schließlich der Schrecken des Augenblicks in voller Stärke:

 Zuerst erkannte sieden dunklen Kapuzenmantel. Er gehörte Kamura. Der Zweite war eindeutig Taoh zuzuordnen. Der schlimmste aller Fälle war für sie eingetreten:

Ihre gesamte Familie, auf dem Schlachtfeld, mit ihrem Feind und dem Jungen, durch den dieser Krieg in der Unterwelt entfacht wurde. Die Panik überkam ihr Gesicht, sodass auch Kamura diesen schnell bemerkte. Einen solchen Horror hatte er in ihrem Gesicht noch nie gelesen.

Sein Blick folgte dem ihren, und auch er erstarrte. Tokat, etwas irritiert von der Entscheidung des Mädchens, widmete ihr noch immer ihre volle Aufmerksamkeit. Es musste jetzt sein. Sie zog ihre Obsidian-Nadeln aus dem Mantel, deutete Kamura an, dass es zu einem Kampf kommen würde, dass er auf Abstand gehen müsse, während Tokat leise mit dem Mädchen sprach!

»Aber ich will leben!«, schrie sie lauthals, mit einer solchen Leidenschaft, dass alle Beteiligten kurz ihren nächsten Schritt vergaßen.

»Junge!«, brüllte Tokat im Kommandanten Ton und wandte sich Kamura zu. »Du wolltest sie retten. Du wolltest ihr den schmerzlosen Weg ausreden. Nun liegt es in deiner vollen Verantwortung, dass sie ihre Entscheidung nicht bereut! Wir werden es zusammen tun. Wende dein Kargyraa an. Verteile deine Kymatik im Boden, auf mich gerichtet. Ich werde sie aufsaugen und so eventuell die nötige Kraft haben, die Trümmer ein wenig anzuheben. Und Ihr, gütige Dame«, er zeigte auf Zelia »Ihr werdet eure Nichte mit aller Kraft herausziehen auf mein Zeichen!«

Er wandte sich im Flüsterton Kamura zu: »Wenn ihr Inneres nur noch von den Trümmern gehalten wird, werde ich sie umgehend erlösen müssen, bevor sie sich entleert! Ist das klar!? Keine weiteren Diskussionen, dies ist indes ein Eintrag in dein Buch des Schicksals. Nun trage die Konsequenz« und trotz des strengen Tons und des dunklen Inhalts seiner Worte hatte Tokat doch auf fast väterliche Art und Weise seine Hand auf Kamuras Schulter abgelegt, was sich direkt mit einem kleinen Schub der Zuversicht in Kamura manifestierte - jedoch auch mit höllischer Furcht, was passieren würde, wenn diese Szenario eintritt.

Der Blick des Mädchens war noch immer wie in Trance auf die Kapuzengestalt gerichtet.

Wie von einem Puls antiker Mächte geleitet, näherte sich die rätselhafte Gestalt. Weißes Haar blitzte unter der Kapuze hervor. In tiefer Verbindung, die sich durch ihren Blickkontakt vollzog. Sie zog daraus Kraft. Alle stellten sich in Position und ehe Zelia sich versah, stand Tammuz direkt neben ihr, vor dem Mädchen entsetzt und doch dieser verdrehten Situation ergeben, mahnte sie ihn mit ungläubigem Blick. Doch Tammuz hatte nur Augen für dieses leidvolle menschliche Wesen vor ihm. Wenngleich er schon nicht viel tun konnte. Er konnte ihre Hand nehmen. Das tat er auch ohne Umwege. Kamura tauschte einen letzten nervösen Blick mit Zelia aus, während sie in jeder vergehenden Sekunde einen neuen Plan entwarf, um ihn im nächsten Augenblick sofort wieder zu verwerfen. Hatte sie ihre Chance verpasst? 

Die Situation hatte sich gewendet. Nun stand sie mit dem Rücken zu Tokat. Schlimmer noch: Ihre ganze Familie war in die Situation eingespannt. Lediglich Taoh beobachte das grausige Schauspiel aus der Distanz. Mit seiner schmächtigen Statur wäre er allen nur im Weg. So wie Kamura es gesagt hatte. Aber was machte dieser dämonische kleine Junge da. Dieser ausgemergelte kleine Junge, verstand er denn nicht, dass er nur im Weg war? Zelia machte sich bereit, dem Kind zu helfen – spielte aber jede Sekunde mit dem Gedanken, es jetzt und hier zu beenden – doch just in diesem Moment pfiff Tokat und deutete einige seiner Wachen an, zu unterstützen. Im Gleichschritt kamen sie angestürmt und setzten ebenfalls an den Trümmern an.

Tammuz hielt noch immer die Hand des Mädchens. Noch immer im tiefen Blickkontakt, während sie jedoch bereits von der Wirkung des Pilzes immer wieder an den nebligen Rand der Ohnmächtigkeit gedrängt wurde und es ihr immer schwerer fiel, diese Anker der Hoffnung überhaupt zu fokussieren.

»Bereit?«, brüllte Tokat lauthals. Einen nach dem anderen blickte er in die Runde, in Kamuras nervöses Gesicht, zu seinen Wachen und zu guter Letzt zu dem Mädchen. Sie nickte schwach. 

»Danke«, murmelte sie im Dämmerzustand, dann schloss sie ihre Augen - ihrem Schicksal ergeben.

»Los gehts, mein Junge!«, wies Tokat Kamura an. Dieser räusperte sich einmal lautstark, schloss ebenfalls seine Augen und begann mit seinem Kehlkopf tiefe, wabernde Frequenzen abzugeben - konzentrierte sich auf die Richtung, in der Tokat stand und nach und nach empfanden alle Beteiligten diese seltsame und mächtige Schwingung, die vom Boden ausging und selbst die kleinsten Härchen im Nacken in leichte Vibration versetzten, begleitet vom typischen Gefühl, als würde die Frequenz im gesamten Torso widerhallen. 

Alsdann schloss auch Tokat seine Augen, erfühlte es. Atmete heftig, fast hyperventilierend. Jeder Atemzug heftiger und schneller als der davor. Und plötzlich öffnete er seine Augen, die in einer solchen Stärke leuchteten, dass der Spalt, in welchem das Mädchen lag, davon in rotes Licht gehüllt wurde. 

Tammuz registrierte die Veränderung der Atmosphäre, das unnatürliche Licht – doch er war dennoch zu sehr bei dem Mädchen, als dass er sich umschauen konnte.  Auch er empfand die Vibration, wie sie sich allmählich in seiner Brustgegend verstärkte. 

Plötzlich riss Tokat die Augen auf: Rot leuchtende, dicke Adern überströmten seinen gesamten Körper, pumpten Unmengen an Blut mit jedem Herzschlag, sein Gesicht fast schmerzerfüllt und dennoch gänzlich fokussiert. Mit einem Satz, fast zu schnell für das menschliche Auge, prallte er gewaltvoll und grobmotorisch gegen die Trümmer, sodass die Anwesenden sich kurz fragten, ob er Schaden davon genommen haben könnte. Doch unbeirrt griff er mit beiden Armen unter den Spalt:

»JETZT, LOOOOOOS!«, schrie er mit einer solchen Kraft, dass man meinen könnte, seine Stimmbänder drohten zu reißen. Ein simultaner Aufschrei durchzog das Gebiet. Plötzlich öffnete das Mädchen die Augen. Ein Anblick, der sich in Tammuz Erinnerungen brannte. Schmerzerfüllt, panisch vor Angst, schreiend, dass es unmöglich vorstellbar war, dass es aus einem solch kleinen Körper kommen konnte. 

Der Boden vibrierte unter den Frequenzen und Bruchstücke fielen fortwährend von den Trümmern. Die schmerzhaften Schreie des Mädchens brachten Kamura aus dem Konzept. Solches Leid war noch nie auf seine empfindlichen Ohren gestoßen. Er öffnete die Augen. Blut trat unter den Trümmern hervor. Tokat hatte es bereits realisiert. Und er hatte recht behalten. Sofort überkam Kamura, wie ein tiefer Schlag in die Magengrube, große Reue. Was hatte er diesem Kind nur angetan? Schmerzerfüllt – am Schreien. Die paar Zentimeter, die sie gewonnen hatten, sanken bereits wieder ab, Tokats Adern nahmen ab. Das Schreien wurde dennoch lauter. 

»Was machst du Kamura?«, klang es von hinter ihm. Es war Taoh, mit Fäusten geballt, mitfiebernd, anfeuernd. »Wenn das einer kann, dann du! LOS!«

Diese Worte brannten in seinem Herzen wie Feuer. Da war er wieder. Sein kleiner Bruder. Entzündete das Erbe seines Vaters von Neuem. Er musste alles geben. Sofort schloss er wieder die Augen. Verstärkte das Kargyraa auf eine neue Tiefe, wie er es selbst noch nie geschafft hatte. 

Ein lautes Krachen, ein Knacken und dann »JETZT!«, schrie Tokat und mit einem Ruck zog Zelia das arme Kind aus dem Spalt. Mit ohrenbetäubendem Knall fielen die Trümmer zu Boden. Freudenrufe erklangen sogleich, doch die Schmerzensschreie des Mädchens erstickten die aufkommende Welle der Euphorie im Keim. Sofort stieß Tokat jeden in seinem Weg gewaltvoll zur Seite und legte seine Hand auf ihren Bauch. Mit ernster Miene, im Versuch, nicht durch die Schreie aus dem Konzept gebracht zu werden, erfühlte er ihre Zustand. Schüttelte dann den Kopf. Ohne Worte zog er erneut einen der grauen, schrumpeligen Pilze hervor und bewegte lautlos eine Hand zu ihrem Mund.

» NEIN!NICHT!«, schrie Kamura.

»Schwieg! Wir hatten eine Abmachung kleiner! Ihre Innereien sind zerquetscht. Ihr Zustand unvorstellbar! Lass sie ihn Frieden und Ehren gehen!«

Kamura verstand nur zu gut, was Tokat sagte. Der noch eben gefeierte Erfolg, sein Durchhalten, sein Glaube an das Richtige ... Sein Erbe. Alles zerrann sogleich wie Sand zwischen seinen Händen.

Ein grüner Lichtblitz pulsierte plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde über die tragische Szenerie. Im nächsten Moment sah Zelia aus dem Augenwinkel eine Person das Gleichgewicht verlieren. Das Schreien des Mädchens hörte sofort auf. Zelia kehrte sich ruckartig um. Zu heftig: Ihre Kapuze verrutschte gerade so weit, dass sich eine feuerrote Strähne offenbarte. 

Tokat verharrte, als hätte ihn ein unsichtbarer Schlag getroffen. Seine Hand, die den Pilz hielt, fror vor den Lippen des Mädchens ein. Ein kurzer, ungläubiger Blick. Dann setzte er sich in Bewegung.