Ein plötzlicher Schrei riss ihn unsanft aus seinem traumlosen Schlaf. Ein feines Gewebe aus Flüstern löste sich auf und zog sich wie Nebelschwaden in die dunklen Ecken des Gemachs zurück. Um den Jungen herum verschmolzen dämonische Fratzen mit dem sanften Schimmer von blauem und grünem Licht, das den Raum in eine trügerische Aura des Friedens tauchte. Wie viele Tage mochten in dieser ewigen Dämmerung vergangen sein, wo Tag und Nacht zu einem zeitlosen Zwielicht verschmolzen – die Grenzen zwischen Licht und Dunkelheit längst verwischt?

An diesem unheilvollen Ort trug die Zeit ein anderes Antlitz. Die Bewohner gaben sich dem Schlaf nur aus bleierner Müdigkeit hin. Seltsam war, wie alle Seelen dieser Stadt, durch ein unsichtbares Räderwerk verbunden, zur selben Stunde den Rückzug ins Schlafgemach antraten. Es war, als hätten sie stumm eine Übereinkunft getroffen, ein geheimnisvolles Ritual entdeckt, das sie in einem verborgenen Takt vereinte.

Mit bedächtiger Sorgfalt ließ er die dürren Beine über die Bettkante gleiten, zitternde Finger umklammerten den kunstvoll geschwungenen Rahmen. Seine fragilen, ausgemergelten Glieder verharrten einen Moment, bereit, das Gewicht der Unsicherheit zu tragen. Dann wagte er den Sprung. Ein trockenes, raues Ächzen entrang sich seiner Kehle, als er standfest auf den Füßen landete. Mit einem entschlossenen Schritt bewegte er sich auf das geöffnete Fenster zu, durch das ein Hauch kalter, erdiger Luft wie ein Versprechen unentdeckter Welten strömte.

Eine tiefe Neugier entzündete sich in seiner Brust angesichts des Mysteriums dieses Ortes. Der Anblick raubte ihm den Atem, ließ sein Herz in ehrfürchtigem Staunen erstarren: Vor ihm erstreckte sich ein scheinbar endloses Firmament, an dem goldschimmernde Punkte wie Sterne funkelten. Doch bei genauerer Betrachtung offenbarten sich diese als Wohnquartiere, kunstvoll erbaut in riesigen, Stalaktiten, aus der Dunkelheit ragenden, umgekehrten Zitadellen.

Ein Kaleidoskop aus Lichtern tanzte vor seinen Augen, sanfte Farbtöne von Rubin, Indigo, Smaragdgrün, Violett und Türkis. Ein lebendiger Teppich aus glühendem Moos und leuchtenden Pilzen in Gold und Orange überzog die Steinfassaden der Stadt. Der feuchte Boden und Fels glitzerten im Dunkeln wie mit Myriaden kleinster Kristalle übersät – Zeugnis der alles durchdringenden Feuchtigkeit, die schimmernd wie ein schleierhafter Hauch über allem lag. In Bodennähe sammelten sich Pfützen, um sogleich an den Rand der Wege geleitet und in unsichtbare, pulsierende Aquädukte unter der Stadt geführt zu werden.

»Welch ein Wunder!«, flüsterte er atemlos, überwältigt von Ehrfurcht und Verlangen, tiefer in dieses Geheimnis einzudringen. Ein leises, beharrliches Klopfen durchbrach die Stille. Mit zögernden Schritten wandte er sich der Tür zu. Wer mochte zu dieser Stunde anklopfen?

»Ich bin wach«, murmelte der Junge, mehr zu sich selbst als zu dem Eindringling. Er trat rückwärts zum Fenster, als wollte er die Mysterien der Stadt zwischen sich und den Besucher schieben. Der Gedanke, sich ins Bett zu flüchten, blitzte kurz auf. Doch bevor er diesem Impuls nachgeben konnte, schwang die Tür auf.

»Ah, du scheinst auf dem Weg der Besserung zu sein. Ich hörte Schritte und wollte nachsehen.«

Der Junge musterte Kamura argwöhnisch. Kamura, dem der Blick nicht entging, rief aus: »Oh, entschuldige. Woher solltest du mich auch kennen? Du hast immer geschlafen, wenn ich da war. Ich bin Kamura, der Bruder von Taoh, den du letztens kennengelernt hast ... und Zelia ist meine Mutter.« Kamuras Stimme überschlug sich kurz. 

»Ich habe es bislang nicht richtig begriffen. Aber was auch immer vorgefallen ist, tut mir leid. Dein Bruder leidet schwer darunter. Scheinbar hat meine Rettung ein großes Opfer von eurer Familie gefordert. Die Reaktion deines Bruders ist berechtigt ...« Beschämt und traurig senkte der Junge den Blick.

Kamura trat näher und ließ sich auf einen Sessel sinken, der wie von Zauberhand aus dem Boden wuchs, geschmückt mit Gravuren von seltener Schönheit. Der Junge hatte dieses Möbelstück bisher übersehen. Jetzt bemerkte er, dass alle Einrichtungsgegenstände aus einem hellen, weichen Material bestanden, als wären sie nicht hergestellt, sondern gewachsen.

»Myzel. Hier unten machen wir alles Mögliche daraus ...«, sagte Kamura und folgte dem Blick des Jungen. Einen Moment lang spiegelte sich das Funkeln in den Augen des Jungen in Kamuras Gesicht wider, doch dann schüttelte er den Kopf, als müsse er sich an seine Aufgabe erinnern.

»Ich will ehrlich mit dir sein. Du musst die Wahrheit kennen, auch zu Ehren meines Vaters, der sein Leben für dich ließ. Er wurde von einem Ghoul gebissen, als er dich retten wollte.« Kamura blickte auf den Boden, kämpfte sichtlich mit seinen Emotionen. Seine Augen verrieten den inneren Aufruhr, ein kurzes bläuliches Aufblitzen - trotz der Obsidiankette. Nach einer Weile hob er den Blick und sah in das verwirrte, ängstliche Gesicht des Jungen.

»Du weißt sicher nicht einmal, was ein Ghoul ist. Du hast dein Gedächtnis verloren, oder?« fragte Kamura, misstrauisch. Er bohrte seinen Blick in den Jungen, als hoffte er auf Antworten. Gedankenverloren zog er die Obsidiankette über seinen Kopf und ließ sie unruhig durch seine Finger gleiten. Der Junge nickte benommen.

Als Kamuras Misstrauen nachließ, sprach er weiter: »Ist besser so, unter den Umständen, unter denen du gefunden wurdest ...«, sagte er und ließ die Kette kreisend um seinen Finger schwingen, als müsse er mit sich selbst etwas ausmachen. Dann hielt er inne.

»Wo fängt man da an ...«, sagte Kamura und kratzte sich den Kopf. »In den Tiefen der Höhlensysteme vor den Toren der Stadt wimmelt es vor Monstrositäten ... darunter auch Ghouls. Teuflische Menschenfresser, gigantisch groß« Er zeigte auf die natürlich gewachsenen Möbelstücke, die eins mit dem Raum waren. »Warte ... hier schau:«

Kamura holte aus einem der geschwungenen Regale ein altes, rustikales Buch hervor, blätterte wild und deutete auf eine der Zeichnungen.

 

Der junge Zuhörer schaute voller Schauder und Schrecken. Er flüsterte zittrig:

»Ich glaube, solche Wesen habe ich gesehen. Mit Körperteilen an falschen Stellen, das Innere war außen sichtbar. Es waren unzählige.«

Kamura nickte nachdenklich. »Wie eine solch schiere Menge so nah an die Stadt kam, ist ein Rätsel. So etwas gab es seit Anbeginn der Geschichtsschreibung noch nie.« Einen Moment saßen beide in tiefem Nachdenken.

Plötzlich fragte der Junge: »Wann war der Anbeginn der Geschichtsschreibung?«

Kamura lächelte zunächst über die Frage, wurde dann melancholisch: »Es gab wohl einen Krieg in der großen Höhle ... man spricht von riesigen Pilzen aus goldenem Licht. Unsere Vorfahren flohen. Kein Zu-Kur fand je einen Weg zurück. Die meisten überleben dort keine paar Wochen. Das ist zumindest eine, der vielen Theorien ... 

Andere behaupten, wie befänden uns im Leib der Göttin Gaia. Nie geborene Kinder einer Göttin ... Wie die vielen kleinen Wesen, die auch unsere Körper zusammensetzen.

Wieder andere verkünden: Wir waren schon immer hier, in völliger Dunkelheit, versklavt vom blauen Teufel - bis der Lichtbringer uns die Freiheit und das Licht der Erkenntnis schenkte. Wenn wir dieses Licht nähren und mehren, so würde es eines Tages jeden Winkel der Stadt durchdringen - und das goldene Zeitalter einläuten ... «

Vorsichtig erkundigte sich der Junge: »Und ... was glaubst du? Was ist wahr?«

Ein wissendes Lächeln umspielte Kamuras Gesicht. »Na, ein wenig von allem halt!«, erklärte er lachend. Der Junge schaute verwirrt drein. Dann dachte er darüber nach, zog seine Augenbrauen in Falten. Er holte tief Luft, sprach sich Mut zu. »Und diese Zu-Kur. Diejenigen, die da draußen sind ... war dein Vater ...« er studierte vorsichtig Kamuras Gesicht auf Reaktionen.

»Ein Zu-Kur?«, rettete Kamura ihn. Der Junge nickte verlegen. »Nein, er war ein Händler an den Toren der Stadt, der mit den Zu-Kur und Ama handelte. Dich trifft keine Schuld, auch ihn nicht. Niemand hat so etwas je erwartet. Sie hätten niemals so nahe sein dürfen. Nach dieser Distanz hätten die Ghouls niemals aktiv sein dürfen. Abba hat sich verschätzt und konnte nicht zusehen, wie ein Kind verzehrt wird.« Kamuras Blick war vorwurfsvoll, doch wem er galt, war dem Jungen unklar.

»Kurz gesagt: Wenn ein Ghoul dich beißt, verändern sich deine Zellen und du wirst zu einer stinkenden Masse. Und aus dieser Masse wächst ein neuer Ghoul. Sie ernähren und vermehren sich so. Angeblich brauchen sie Nahrung nur zum Bewegen und zum Wachsen. Sie überdauern Jahrhunderte«

Kamura blickte finster. »Wie dem auch sei, du lebst! Sei dankbar dafür. Sorge dafür, dass das Opfer unseres Vaters nicht umsonst war. Diese Verantwortung trägst du nun als Preis deiner Rettung. Ich hege keinen Groll gegen dich, doch ich werde dich beobachten und mir selbst ein Bild davon machen, ob es sein Opfer wert war.«

Von der Schwere der Worte niedergedrückt, taumelte der Junge zurück auf sein Bett, den Kopf gesenkt. Flüsternd sprach er: »Ich verstehe. Du hast recht. Wenn mein Leben den Preis des seinigen hatte, werde ich ihm diesen Wert geben! Ich werde euch nicht enttäuschen. Und ich werde herausfinden, warum das alles geschehen konnte. Scheinbar waren auch meine Eltern unter den Opfern.«

In nachdenklicher Stille saßen sie einen Moment lang da, verbunden durch ein unausgesprochenes Verständnis. Dann beugte sich Kamura vor, die Obsidiankette um seinen Arm gewickelt, und fragte neugierig: »Was machst du eigentlich die ganze Zeit?«

Der Junge erwiderte Kamuras Blick verwirrt. »Deine Augen«, fuhr Kamura fort, »... sie leuchten Grün. Nicht stark, aber permanent. So etwas habe ich noch nie gesehen. Kymatik zehrt an den Kräften.« Ungläubig starrte der Junge ihn an, überwältigt von den Rätseln, die ihn umgaben.

Kamura deutete auf einen Spiegel am anderen Ende des Raumes. Mit Argwohn blickte der Junge abwechselnd zum Spiegel und zu Kamura. Langsam und vorsichtig erhob er sich, jeder Schritt von Schmerz durchzogen, obwohl seine Beine ihn trugen.

Kamura beobachtete ihn mit einem schlauen Lächeln.

»Wusste ich's doch!«, rief Kamura, Genugtuung in seiner Stimme. »Du kannst normal gehen. Ich hatte mich schon gefragt, wie du es ans Fenster geschafft hast. Als du hier ankamst, waren deine Beine gebrochen!«

Ein schwaches grünes Leuchten strahlte ihm aus fremden Augen entgegen, eingebettet in ein Gesicht, das zugleich vertraut und fremd war. Erschrocken wich er zurück, überwältigt von den ungewöhnlichen Zügen, die ihm entgegenblickten:

Schneeweißes Haar türmte sich wirr auf brauner Haut, als würde es gen Himmel streben. Die Augen, groß und verengt, glichen denen einer Raubkatze – schlau, berechnend, erbarmungslos. Ein scharfer Blick schien die Seele zu durchdringen.

Nichts an diesem Gesicht passte zusammen. Doch es strahlte eine eigentümliche Ästhetik aus. Wäre da nicht das unverkennbare Gefühl seines Geschlechts, hätte er selbst Schwierigkeiten gehabt zu bestimmen, ob ein Jüngling oder ein Mädchen ihm entgegenblickte. Er war dürr, schmächtig und zerschrammt. Am meisten aber verunsicherten ihn diese Augen. Diese grünen Augen, die ihre eigene Lichtquelle zu sein schienen.

»Was ist mit meinen Augen? Bin ich krank?«, fragte der Junge, während er sich ängstlich abwandte.

»Im Gegenteil«, antwortete Kamura sichtlich amüsiert. »Du bist ein Kymist! Sehr jung. Und talentiert, dass du seit Tagen pausenlos deine Kräfte nutzt!«

Der Junge starrte Kamura verständnislos an. 

»Deine Augen verraten es. Ich bin auch ein Kymist ... Naja also theoretisch ... kein ausgebildeter. Aber ich habe die Gabe! Es gibt einige seltene Menschen, welche die Kymatik nutzen. Die Augenfarbe verrät das primäre Chakra des Anwenders. Mein Chakra ist das Halschakra. Deswegen kann ich gut mit Schallwellen ... und meiner Stimme umgehen. Nach einer Ausbildung würde ich wohl sogar über Resonanzschwingung Objekte levitieren lassen können ... Aber naja ... Wie dem auch sei: Jedes Chakra hat nun mal seine speziellen Anwendungsgebiete. Deine grünen Augen weisen auf das Herzchakra hin. Deswegen kannst du vermutlich heilen! Da das Wissen über die Kymatik erst in der Ausbildung vermittelt wird, weiß ich leider nicht viel über die anderen Chakren. Mein Wissen habe ich durch meine eigenen kleinen Studien erlangt«

Kamura sprang flink von seinem Sessel auf und musterte den Jungen eingehend, als würde er ein seltenes Artefakt begutachten.

»Du brauchst einen Namen«, murmelte er, während seine Augen über die ungewöhnliche Gestalt wanderten. »Irgendwie muss man dich ja rufen können. Hm, lass mich überlegen!« Nachdenklich runzelte Kamura die Stirn, seine Gedanken rasten sichtbar hinter seiner Miene.

Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, als hätte er eine Eingebung.

»Du warst dem Tode geweiht, bist aber wieder zu dir gekommen. Als wärst du von den Toten auferstanden ...« Seine Stimme senkte sich zu einem ehrfürchtigen Flüstern. »Wie wäre es mit ... Tammuz? Das bedeutet hier unten 'Der Wiedererwachte'.«

Beim Klang dieses Wortes regte sich etwas im Inneren des Jungen. Ein unbestimmtes Gefühl der Vertrautheit ließ ihn unbewusst, die Lippen jene Laute nachformen. »Ta ... Tammuz!«, rief er aus. Ein kurzes, verstohlenes Lächeln durchbrach Kamuras düstere Fassade, als die beiden in sanfter Verbrüderung diesen kleinen Sieg gegen das verlorene Selbst feierten.

»Pah! Wohl eher ein 'Gala-Gig'!«, spottete Taoh plötzlich durch die Tür hindurch, seine Worte wie giftige Pfeile. Verachtend musterte er den Jungen, während er im Türrahmen verharrte, als hielte ihn eine unheilvolle Kraft ab. »Er hat doch nichts gemacht, außer sich in die Hosen zu machen und auf Rettung zu warten. Und deshalb ist Abba jetzt-« Doch auch ihm brach die Stimme, die Last der Worte zu schwer. Sein Blick war ein kaltes Messer, das den Jungen durchbohrte.

Kamura sah seinen kleinen Bruder mahnend an. »Tammuz hat da draußen länger überlebt als viele Zu-Kur. 'Krankheitsgefäß' oder 'Angsthase' sind unpassend, Taoh. Was sagt das über uns aus?« Seine Worte waren scharf, aber brüderlich.

Taoh winkte desinteressiert ab. »Wie auch immer.« Kamura musterte ihn irritiert, als stünde ein Fremder vor ihm.

»Ich soll Bescheid sagen«, fuhr Taoh fort, emotionslos. »Ama hat dringend etwas zu erledigen. Du sollst Besorgungen auf dem Markt machen.« Sein Blick glitt zu Tammuz. »Und der Junge soll den Raum nicht verlassen. Seine Kymatik könnte problematisch werden.«

Mit einer beiläufigen Bewegung warf Taoh einen Haufen Obsidian vor Tammuz' Füße, die Steine verstreuten sich auf dem Boden. »Verteilt sie im Raum, falls er nicht aufhören kann mit seinem Hexenwerk. Sonst kann er sich bald noch mehr Opfer auf die Liste schreiben.« Die Worte fielen kalt von seinen Lippen, als er die Tür schloss und den Raum verließ.

Kamura sah Tammuz entschuldigend an. »Ich kenne ihn sonst nicht so. Es tut mir leid. Eigentlich ist er der liebste kleine Bruder, den man sich vorstellen kann. Unter anderen Umständen wärt ihr sicher Freunde geworden, womöglich seid ihr im selben Alter.« Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Gib ihm Zeit und nimm dir seine Worte nicht zu Herzen, ja?«

Doch die Stimmung im Raum hatte sich verändert, durchzogen von einer unterschwelligen Spannung. Taohs Auftritt hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, der die zuvor herrschende Verbundenheit überschattete. Kamura seufzte.

Tammuz nickte langsam und schwermütig, seinen Blick fest auf die dunklen Steine am Boden geheftet.

»Das da, das ist Obsidian! Wir nutzen ihn hier unten, um Kymatik zu negieren. Ich habe auch so eine, siehst du?«

Kamura trat näher, ließ die Obsidiankette von ihrem Arm gleiten und warf sie Tammuz in einer geschmeidigen Bewegung zu. Instinktiv griff er danach, aus Angst, sie könnte zerbrechen. Doch als seine Finger den kalten Stein berührten, schoss eine qualvolle Schockwelle durch seinen Körper.

Er schrie auf, krümmte sich und stürzte zu Boden. Es fühlte sich an, als würden tausende Nägel in sein Fleisch dringen. Dunkelheit überkam ihn, ein Flammenmeer aus Schmerz versuchte, ihn aus seinem Körper zu reißen. Flüchtige Bilder tauchten auf – schmatzende Kreaturen, das kalte Obsidian. Alles kam zurück. War dies nur ein Traum? Oder die grausame Realität?

Ein schwarzer, megalithischer Sarkophag erschien vor seinem geistigen Auge, so pechschwarz, dass er die Dunkelheit überschattete. Was war das? Es kam ihm bekannt vor, doch gleich einem Fiebertraum wandelte sich alles erneut. Kamuras Gesicht, bleich und aus der Ferne rufend.

Ein paar Klatscher hallten im Raum wider. Sein Gesicht wurde warm, der Schmerz ließ nach. Sein Atem beruhigte sich. »TAMMUZ! WACH AUF!« rief Kamura, über ihn gebeugt, den Obsidian in der Hand.

»Wa- Was ist passiert? Was ... hast du mit mir gemacht?«, fragte er, verwirrt und ungläubig. Kamuras Gesicht wirkte nun bösartig, berechnend. Er stieß sie von sich, trat einige Schritte zurück, die Hände schützend vor sich.

»Tut mir leid, tut mir leid! Ich wusste nicht—« Kamura trat auf ihn zu, doch Tammuz wich weiter zurück, bis sein Kopf die Wand hinter ihm berührte und sich ihm, gleich eines verletzten Tiers in die Ecke gedrängt, ein dunkler, verzweifelter Ausdruck im Gesicht abzeichnete.

»Er ist ein Dämon!« zischte es von der Tür her. Taoh stand dort, seinen kalten Blick auf Tammuz geheftet. »Obsidian sollte seine Kräfte bändigen, nicht entfesseln. Ich habe ein Buch über diese Teufel gelesen. Er ist ein Mutant! Ein Sohn des blauen Teufels!«

»Taoh, was redest du?«, fragte Kamura eindringlich und versuchte, die Situation zu entschärfen. »Tammuz ist weder Dämon noch Mutant. Er ist ein Junge, der Schreckliches erlebt hat und unsere Hilfe benötigt.«

Doch Taoh blieb unnachgiebig, sein starrer Blick durchbohrte Tammuz, der sich zitternd in die Ecke drängte. »Siehst du nicht, wie er auf den Obsidian reagiert? Wir müssen ihn fortschicken, bevor er uns ins Verderben reißt!«

Kamura schaute erschrocken auf seinen kleinen Bruder. Taoh erschien ihm fremd, als ob dunkle Wesenszüge ans Licht traten, die bisher verborgen geblieben waren.

Mit Enttäuschung und Sorge schüttelte Kamura den Kopf. »Was liest du da für ein Buch? Du klingst wie ein Kultist! Sohn des blauen Teufels? Das bist nicht du, Taoh!«

Taohs Fassade bröckelte unter Kamuras durchdringendem Blick. Beschämt senkte er den Kopf.

»Er hat grüne Augen. Wer hat noch grüne Augen?«, mahnte Kamura mit elterlicher Geduld.

»Unsere Oma, Hanye«, murmelte Taoh, den Blick gesenkt.

»Richtig. Und was ist Uma Hanyes kymatische Fähigkeit?«, bohrte Kamura nach und hielt seinen Bruder fest im Blick.

»... heilung ...«, nuschelte Taoh kaum hörbar.

»Genau. Und deshalb trifft Tammuz keine Schuld.« Kamuras Blick wanderte erneut zu dem zitternden Häuflein Elend in der Ecke. »Ich hätte wissen müssen, dass die Negierung seiner Heilkräfte sofort diesen Effekt hätte. Seine Heilkräfte scheinen alles zu sein, was seinen geschundenen Körper noch zusammenhält. Deshalb leuchten deine Augen wahrscheinlich auch permanent, wenn auch schwach, Tammuz.«

Doch Tammuz reagierte nicht. Wie erstarrt, verharrte er in der Ecke, den Blick in einen unsichtbaren Spalt zwischen Raum und Zeit gerichtet.

Kamura senkte den Kopf, Reue und Verständnis in seiner Stimme: »Das war mein Fehler, Tammuz, aber ich verstehe, wenn du Ruhe brauchst. Wer weiß, was du da draußen alles vergessen hast. Falls etwas ist, ruf mich.«

Während er sprach, sammelte Kamura die verstreuten Obsidiane auf und platzierte sie mit bedachter Präzision im Raum, als würde er die Knotenpunkte einer geheimen Geometrie nachbilden. Mit einem kurzen Nicken verließ er den Raum, kehrte jedoch sofort zurück und deutete mit einem schiefen Lächeln und einer obszönen Geste auf einen Behälter – eine stumme Botschaft für Tammuz' Bedürfnisse.

Kurz bevor Kamura die Tür schließen konnte, hallte ein ohrenbetäubender Knall durch den Raum, keine fünfzig Meter entfernt. Ein Beben erschütterte den Boden. Schreie zerrissen die Luft. Ein weiterer Knall folgte. Chaos brach aus, Kreischen und Geschrei erfüllten die Straßen.

Kamura riss die Tür auf und stürzte ans Fenster. Er erstarrte. Entsetzen in seinem Blick. Einer der Titanpilze der Nachbarschaft stürzte wie ein gefällter Baum im freien Fall. Für einen Herzschlag traf Kamuras Blick den eines kleinen Jungen. Gefangen im fallenden Heim. Verzweiflung. Hilflosigkeit. Gemeinsam fielen sie dem Untergang entgegen.

Menschenmengen flüchteten von der Straße, den Trümmern ausweichend, soweit es ihnen möglich war. Zwei Gestalten stachen aus der fliehenden Menge hervor: Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, in schweren Mänteln gehüllt. Unter einem Umhang flimmerte ein großer Hut hervor. Kamura erkannte es sofort: ein Zu-Kur.

Der Zu-Kur stolperte und fiel. Plötzlich: Ein roter Lichtblitz, unmenschlich schnell, sprang über die Trümmer. Ein dumpfer Aufschlag, gefolgt von einem Stöhnen und Blut. Da standen sie. Ein Mann, überzogen von glühend roten Adern, von ungeheurer Statur, mit roten Augen, geschorenen Seiten und schwarzem Zopf. Sein Arm war tief in den blutigen Brustkorb des Zu-Kurs versenkt.

Hinter ihnen krachte das Gebäude ohrenbetäubend zusammen. Eine Wand aus Staub wirbelte empor und verschluckte die beiden Gestalten.

Kamura stand wie versteinert, den Mund weit geöffnet, unfähig zu begreifen, was sich vor seinen Augen abspielte. Er bemerkte nicht einmal, dass Tammuz neben ihm stand, ebenfalls Zeuge dieses schauderhaften Spektakels.

Plötzlich: ein Krachen. Die Tür im Flur sprang auf, als würde das Haus jeden Moment einstürzen. Zelia taumelte herein, blutüberströmt. Mit letzter Kraft schloss sie die Tür und wandte sich Taoh zu. Ihre Augen loderten vor Angst und Zorn.

»DER OBSIDIAN! WO IST ER!?«