Die Dunkelheit war erdrückend und kalt. Alles war still. Staub und Trümmer umgaben Zelia, Kamura und Taoh, während sie sich mühsam aus den Überresten des Einsturzes befreiten. Ihre Körper waren zerschunden, ihre Seelen erschüttert. Kamura rang nach Luft, jeder Atemzug war eine Qual, als würde seine Kehle von innen heraus brennen. Sprechen war unmöglich.

Zelia blickte zu ihm hinüber, ihre Augen voll Sorge und Erschöpfung, doch ihr Kiefer war vor Entschlossenheit verkrampft. Sie hatte ihren eigenen Körper geopfert, um den Sturz der beiden abzufedern. Keuchend klopfte sie sich den Staub vom Leib, doch als ihre Hand die Rippen berührte, zuckte sie zusammen. Ein blitzartiger Schmerz durchzog ihren Körper. Sie stöhnte auf, doch unterdrückte sofort jede weitere Reaktion. Die Rippe war wohl gebrochen.

»Wir müssen hier raus«, flüsterte sie zähneknirschend und bedeutete Taoh mit einem Nicken, ihr zu folgen. Die Luft war schwer von Staub, und jeder Schritt hallte unheimlich durch die unbekannten Tiefen dieses fremdartigen, rustikal erbauten Tunnelsystems. Ihre Umgebung war in dichte Schatten gehüllt, nur gelegentlich blitzten schwache Lichtstrahlen durch Ritzen in den Wänden. War dies ... Myzel?

»Wo sind wir?«, fragte Taoh gedankenlos. »Sind wir noch in Naraka? Oder ist das hier ... Xibalba?« Bei diesen Worten lief ihnen allen ein kalter Schauer über den Rücken.

»Was auch immer das hier ist«, flüsterte Zelia, noch immer keuchend. »Es sollte nicht hier sein. Passt auf! Wir wissen absolut nicht, was hier unten lauert!«

Kamura stützend und Taoh an der Hand haltend, blickte Zelia in die beiden möglichen Richtungen. Der Sturz hatte ihr die Orientierung genommen. Doch sie beabsichtigte keinesfalls, den Weg zu nehmen, der eventuell aus Naraka hinausführte.

Sie kannte die grausigen Wahrheiten Xibalbas nur zu gut, wusste, dass nur jene die grausige Realität als Legenden abtaten, die die sicheren Tore der Stadt nie verlassen hatten. Taoh beobachtete ihre Unsicherheit mit wachem Blick. Als sie dies bemerkte, entschied sie, zu gehen. Weit oben, durch den schmalen Spalt, der ihnen das einzige Licht spendete, hörte sie bereits die Rufe ihrer Verfolger, die Pläne schmiedeten, wie sie die Fährte am besten aufnehmen konnten.

Unter den Trümmern entdeckte Taoh jedoch nach wenigen Schritten ein Büschel weißes Haar, mit Blut und Dreck verklebt. Er hielt einen Moment inne, zeigte auf die Stelle. In einem Satz war Zelia bei ihm, warf die Trümmer allmählich vom bewegungslosen Körper. Das Gesicht des Jungen war bleich und gezeichnet von Schmerzen. Neben ihm lag der leblose Körper des Mädchens, dessen Name ihnen noch unbekannt war. Sofort überprüfte sie den Puls. Tammuz atmete schwach, stöhnte vor Schmerz. Sie befreite ihn weiter von der Last der Trümmer und überprüfte als Nächstes den Puls des Mädchens.

Zu ihrer Überraschung hatte auch sie noch einen schwachen Puls. Für einen Moment triumphierte ihr Gewissen, ihre Befürchtungen, Lügen gestraft zu haben. Dass sie sich trotz des Risikos richtig entschieden hatte. Doch dieser kleine Sieg wurde schnell zunichtegemacht, als sie bereits das Herablassen von Seilen in den Spalt vernahm.

»Sie lebt noch!«, flüsterte Zelia, während sie sich neben das Mädchen kniete. Kamura, noch taumelnd und kaum in der Lage, geradeaus zu schauen, erwachte bei diesen Worten kurz aus seiner Trance. Doch beim Versuch, sein Augenlicht zu aktivieren, stöhnte er vor Schmerz. Er ächzte etwas heraus, das entfernt, wie eine Bekundung seiner Unfähigkeit klang. Seine Stimme war rau und zerschunden, schmerzlich bereits beim bloßen Hören.

Die letzte Attacke hatte ihn völlig ausgebrannt. Er fühlte sich leer, kraftlos, wie ein Schatten seiner selbst.

»Shh! Ruhig! Du hast hinreichend getan! Ohne dich wäre alles vorbei!«, flüsterte sie.

Zelia schloss für einen Moment die Augen, um ihre Sinne zu schärfen. Sie ließ die Dunkelheit der Höhle auf sich wirken, das leise Flüstern der Biolumineszenz an den Wänden. Dann erhob sie ihre Stimme, fest und unerschütterlich.

»Wir müssen schnell handeln«, sagte sie. »Kamura, du musst durchhalten. Taoh, hilf mir bitte, die beiden zu bergen!«

Mit vereinten Kräften hoben sie die Verwundeten aus den Trümmern. Das Mädchen regte sich leicht, ihre Augen flackerten schwach. Ein gequältes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie Zelia erkannte. »Danke«, flüsterte sie, bevor sie wieder das Bewusstsein verlor.

Zelia kämpfte gegen die aufkommende Panik an. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, ein steter, drängender Rhythmus. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte sie entschlossen. »Die Verfolger sind nah. Wenn wir es nicht schaffen, werden wir alle sterben.«

Da stand sie, allein mit vier verletzten Kindern, verfolgt von einem der stärksten Krieger und seiner Gefolgschaft. Sie war zerschunden und am Ende ihrer Kräfte. Gebrochene Rippen machten jeden Atemzug zur Qual. Hoffnungslos gefangen an einem der gefährlichsten Orte, die es gab. Diese leuchtenden Fäden, die sich durch die Spalten der Wände wanden, waren ein unheilvolles Zeichen. Leuchtende Pilze waren ihr bekannt, aber leuchtendes Myzel war in Naraka nicht vorhanden. Daraus ließ sich nur eines schließen: Sie war in einem fremdartigen Biotop gelandet, abseits der fein kontrollierten Flora und Fauna ihrer Heimat.

»Wir müssen uns beeilen. Sie werden uns verfolgen«, sagte sie entschlossen. Der Klang ihrer eigenen Stimme verlieh ihr neuen Mut. Mit den beiden Kindern auf dem Rücken begann sie, sich durch die engen Gänge des Tunnelsystems zu bewegen. Jeder Schritt war eine Qual, und die Schmerzen in ihrem Körper machten es schwer, klar zu denken. Aber sie durfte jetzt nicht schwach werden. Ihre Familie und die beiden Kinder zählten auf sie.

In der Ferne hörte sie bereits die gedämpften Rufe der Verfolger. Die Schritte der Krieger hallten durch die Tunnel und ließen die Wände vibrieren. Ein kalter Schauer lief Zelia über den Rücken, doch sie drängte ihre Angst zurück und ging weiter.

»Wir dürfen nicht aufgeben«, flüsterte sie. »Nicht jetzt!«

Ihre Muskeln brannten, doch sie zwang sich weiter. Jeder Atemzug schmerzte, als wäre Feuer in ihrer Lunge. Der Schweiß lief ihr in die Augen, doch sie wischte ihn nicht weg. Ihre Hände waren zu sehr damit beschäftigt, die Kinder festzuhalten. Taoh, der am wenigsten Verletzte von ihnen, führte den Weg, stützte seinen Bruder, dessen Beine immer wieder nachgaben.

Seine kleinen Schritte hallten durch die ungewisse Dunkelheit, doch er hielt sich tapfer, obwohl die Angst in seinen Augen deutlich zu erkennen war. Die Gänge waren labyrinthartig, teilweise klaustrophobisch eng und schienen endlos. Jeder Schritt durch die Dunkelheit war ein Schritt ins Unbekannte, aber sie hatten keine Wahl. Zurückzukehren war keine Option. Jeder Schritt war in dieser vollkommenen Dunkelheit ein Schritt ins Ungewisse. Rasch verloren sie die Orientierung.

Plötzlich hörten sie ein leises Geräusch, das sich durch die Stille schlich. Ein Rauschen, ein Flüstern. Zelia blieb stehen, hielt den Atem an und lauschte. Es waren Schritte. Ihre Verfolger waren näher, als sie gedacht hatten. Die Panik begann sich in ihrer Brust auszubreiten, aber sie zwang sich zur Ruhe!«

»Psst!«, mahnte sie alle ruhig zu sein. Doch das schwere Atmen Kamuras machte eine genaue Lokalisierung der Geräusche schwierig.

»Schneller«, zischte sie, und sie setzten ihren Weg fort. Das Flüstern der Verfolger wurde lauter, und Zelia spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie mussten einen Weg hinausfinden, bevor es zu spät war.

Erste Flecken zeichneten sich in ihrem Sichtfeld ab, und Übelkeit begleitet von Schwindel ließen sie bald taumeln. Sie benötigte dringend einen Moment zum Verschnaufen. Doch die Geräusche aus der Ferne trieben sie weiter zur Flucht.

Schließlich öffneten sich die engen Passagen ein wenig. Doch inzwischen war es schwierig, zu sagen, wo der Weg weitergehen würde. Sie musste ohnehin einen Moment verschnaufen und sich neu orientieren.

Zelia ließ das Mädchen vorsichtig auf den Boden sinken und überprüfte erneut ihren Puls. Er war schwach, aber konstant. Kamura legte Tammuz neben sie und setzte sich schwer atmend auf den Boden. Er konnte noch immer nicht sprechen, aber seine Augen suchten in der Finsternis, die von Zelia, die seine Angst und Verzweiflung teilte.

»Wir sind weiterhin nicht sicher«, sagte Zelia leise, während sie den Raum mit den Händen absuchte. »Aber wir haben es geschafft, ein wenig Abstand zu gewinnen!«

Ihre Finger tasteten über die feuchten Wände, die von Myzelfäden durchzogen waren. Das leuchtende Geflecht pulsierte leicht, als würde es auf ihre Berührung reagieren. Ein seltsames Gefühl beschlich sie, als ob das Biotop selbst sie beobachtete. Die unheimliche Atmosphäre machte es schwer, ihre Gedanken zu ordnen.

»Taoh, sieh dich um, ob du etwas Nützliches findest«, flüsterte Zelia. »Wir müssen unsere Kräfte sammeln und einen sicheren Weg finden.«

Taoh nickte tapfer, obwohl seine Augen vor Angst und Erschöpfung glänzten. Er begann, den Raum zu durchsuchen, während Zelia ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kamura und die verletzten Kinder richtete. Die Zeit war knapp, und sie wusste, dass ihre Verfolger nicht weit hinter ihnen waren.

»Kamura, halte durch«, sagte sie, als sie sein Gesicht in den Händen hielt. »Wir schaffen das. Ich lasse euch nicht im Stich!«

Kamura nickte schwach, seine Augen voller Vertrauen und Schmerz. Taoh kauerte sich neben Kamura und Tammuz; blickte ängstlich durch die Finsternis.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Taoh mit bebender Stimme.

Zelia atmete tief durch und lauschte den schmerzerfüllten Atemzügen und dem Stöhnen der verletzten Kinder. Sie wusste, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten, aber sie benötigten einen Plan. »Wir müssen weiter, einen Weg aus diesem Labyrinth finden. Und wir müssen schnell sein, damit sie nicht sterben. Die Kleine hat vermutlich innere Blutungen und der Junge ist – wer weiß, wie unglücklich gefallen!«

Kamuras Augen schimmerten schwach in der Dunkelheit, gerade so schwach, dass er den Schmerz ertragen konnte, ohne in Ohnmacht zu fallen. Er wusste, dass sie ohne jegliche Orientierung verloren wären.

Er nickte schwach, und Zelia sah in seinen Augen, dass er bereit war, weiterzukämpfen, egal, wie schlecht es ihm ging. Sie sammelten ihre Kräfte, überprüften ihre Vorräte an Obsidian und bereiteten sich darauf vor, den nächsten Schritt zu machen. Kamura erzeugte bei jedem Atemzug eine schwere, hellblaue Nebelwolke. Die Höhle war lebensfeindlich, kalt und feucht. Hier unten gab es wohl kaum Sauerstoff spendende Pflanzen, keine Lumiflora, kein fluoreszierendes Chlorophyll, das Fotosynthese betreiben könnte.

Schließlich entdeckte Zelia einen kleinen Spalt, an dem die Höhle sich weiter zu winden schien.

»Hört mir zu«, sagte Zelia schließlich. »Wir gehen weiter, immer dem Licht nach. Wir dürfen nicht stehen bleiben. Wenn wir es schaffen, diesen Tunnel zu durchqueren, finden wir vielleicht einen Ausgang. Taoh, du führst uns weiter. Kamura, pass auf die Kinder auf. Ich werde unsere Schritte sichern!«

Mit diesen Worten machten sie sich wieder auf den Weg, durch die endlosen, dunklen Tunnel, immer auf der Suche nach einem Lichtstrahl der Hoffnung. Der mangelnde Sauerstoff machte sich bereits bemerkbar. Der Schwindel wurde stärker.

Nach einer Weile, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, entdeckten sie einen schwachen Lichtschein am Ende eines der Tunnel. Hoffnung flammte in ihren Herzen auf, und sie beschleunigten ihre Schritte. Die Schmerzen und die Erschöpfung wurden zur Nebensache. Die Verfolger waren immer noch zu hören, in der alles verschlingenden Dunkelheit hinter ihnen.

Während sie dem schwachen Schimmer einer unbekannten Hoffnung folgten, kroch ein unsichtbarer Schrecken durch die kalten, stummen Gänge vor ihnen. Das monotone tropfen von Kondenswasser glich den Schlägen eines verzweifelten Herzens, das hörbar um Gnade flehte. Ihre müden, kaum sichtbaren Schatten wankten fast ziellos vorwärts, die bleiche Lichtung am Ende des Tunnels undurchdringlich und beinahe lächerlich entfernt.

Plötzlich durchbrach ein grollendes Brummen die drückende Stille. Begleitet vom unverkennbaren elektrischen Knistern kymatischer Apparaturen. Der Ton wurde höher, als würde sich etwas aufladen. Es kam von überall und nirgendwo zugleich, ein raues Echo in den engen Gängen.

Zu nah. Viel zu nah.

Zelia hielt abrupt inne, und mit ihr stockte auch der Atem Taohs. Sie blickte zurück, ihre Augen angestrengt in der Schwärze suchend – konnte sie fliehen?

Ein paar unheilvoll leuchtend rote Augen flammten bedrohlich in der Dunkelheit auf, kalt und abschätzend. Der Anblick ließ ihr Blut in den Adern gefrieren.