Als die Höhlenstadt noch in die Umarmung eines tiefen Schlafes versunken war, schritt Zelia nach einer weiteren schlaflosen Nacht durch finstere Gassen. Die Kapuze ihres schweren, dunklen Mantels tief ins Gesicht gezogen, um die Spuren ihres Leids zu verbergen. Antworten mussten her. Und es gab nur einen Ort, an welchem sie diese finden würde.
In diesen einsamen, von quälenden Gedanken durchwachten Nächten drängten sich die Schatten der Vergangenheit in ihre Träume. Ein besonderer Traum, in dem Taoh spielend und lachend plötzlich von der Dunkelheit verschlungen wurde, hatte ihren Entschluss in unerschütterlichen Stein gemeißelt.
Jeder ihrer Schritte war von größter Umsicht geprägt, als sie die vertrauten, doch indes gefährlich gewordenen Pfade der Mittelstadt durchquerte. Ihr Blick schoss rastlos von einem Schatten zum nächsten, stets wachsam vor möglichen Spähern der Elite oder umherstreifenden Auranen, die ihre Patrouillen zu diesen Stunden verstärkt haben mochten.
Das sanfte Glühen der Leuchtkäfer, im Kontrast zu den Geräuschen der Dunkelheit merkwürdig beruhigend, erinnerte Zelia an die Geschichten ihrer Kindheit. Erzählungen von einer Zeit, als Naraka bislang nicht von Schatten verschlungen war, eine Ära der Hoffnung und des Lichts.
Den Legenden nach waren diese Leuchtkäfer mit der Essenz des Lebens durchwoben, das Licht Gaias in ihren Körpern, ein Licht, das niemals von der Dunkelheit verzehrt werden konnte. Es war ein Geschenk, eine Erinnerung daran, dass Gaia niemals zulassen würde, dass ihre Kinder der Verzweiflung erliegen.
Ein flüchtiger Hauch von Hoffnung durchströmte sie, doch dieser wurde schnell von einem eisigen Griff der Realität erstickt. Zelias Gedanken drifteten zu Eladan, dessen Lachen sie sonst in ihren dunkelsten Stunden wie eine Flamme geleitet hatte. Doch hier war keine Flamme der Freude … lediglich das Summen der Leuchtkäfer.
Auf leisen Sohlen näherte sie sich einer kleinen, unscheinbaren Brücke. Der leichte Geruch menschlicher Notwendigkeiten stieg aus der Tiefe unter der Brücke auf.
Zelias Blick wanderte über den Boden, bis sie den kleinen Riss im Gestein entdeckte. Sie positionierte sich präzise darüber, fixierte kurz das Ziel. Ein letzter Blick nach links und rechts – die Luft war rein – und schon sprang sie mit einer fließenden Bewegung über das Geländer.
Im freien Fall intensivierte sich der beißende, penetrante Geruch mit jedem Meter. Das Tosen eines Flusses wurde ohrenbetäubend, nur um kurz vor dem Aufprall alles an ihr vorbeizuspülen. Im nächsten Moment landete sie sanft, als hätte sie ein unsichtbares Netz aufgefangen. Über ihr hörte sie bereits das Rauschen des Wassers, das seinen gewohnten Lauf fortsetzte.
Dies war eine der vielen optischen Täuschungen, ein Meisterwerk des Anführers der Scions– dem geheimen Widerstand von Naraka. Jene, die nicht in die Geheimnisse eingeweiht waren, erwartete ein geruchsintensives Wasserabenteuer ohne Wiederkehr, sobald sie in diesen unterirdischen Kanal gezogen wurden. Nun befand sie sich unter diesem Netzwerk aus Aquädukten und Kläranlagen, das die Stadt wie Lebensadern durchzog.
Zelia bewegte sich mit bedächtigen Schritten entlang der feuchten Tunnel, deren Wände von sanft glühenden Licht-Pilzen gesäumt waren. Die Luft war von schneidender Kälte erfüllt, durchdrungen vom typischen Geruch nach feuchter Erde.
Nachdem dann völlige Ruhe den Raum einhüllte und nur der Nebel seicht im Lichte des Feuers tanzte, eröffnete Gidim-Zu:
»O Lichtbringer, der du durch die Finsternis weisest, schütze uns auf unseren Wegen durch die ewige Nacht. Vor dem Blauen Teufel, bewahre uns, führe uns fern von seiner Macht!«
Diese Tunnel weckten in ihr düstere Fantasien über die tiefen Höhlensysteme von Xibalba und die Abscheulichkeiten, die sie bewohnten.
Diese Höhlen entbehrten größtenteils dem Luxus der Lumiflora oder anderer Lichtquellen. Sie boten kaum Nahrung und bestanden aus klaustrophobisch engen Passagen, die sich wie ein endloses Labyrinth erstreckten. Kriechend vorankommend, konnte man nie wissen, ob der Weg in einer Sackgasse endete und einen für immer zu einem Teil der Höhle machte. Eine eigene Lichtquelle zu tragen, war ein zweischneidiges Schwert – einerseits unverzichtbar, andererseits ein Risiko, jene zu wecken und anzuziehen, die in der Finsternis lebten und jagten.
Inmitten dieser düsteren Gedanken wanderte Zelias Geist zu ihrem Sohn, Atlan. Die Vorstellung seiner letzten Momente, einsam, verlassen und von Dunkelheit umhüllt, schnürte ihr die Kehle zu. So, wie sich wohl auch der Junge mit weißem Haar gefühlt haben musste – so wie … Eladan.
Ein heftiger Schluchzer überkam sie, weitete sich zu einem Keuchen, das ihr den Atem raubte. Ihr Herz drohte, in eine bodenlose Finsternis abzugleiten, ein Schwindel erfasste sie und lähmte ihre Glieder. Kraftlos lehnte sie sich an die kühle Steinwand, suchte Halt in einer Welt, die zu zerbrechen drohte.
Zelias innere Stimme drängte sie weiter: »Komm schon! Du musst weiter.« Ein Funke der Entschlossenheit flammte inmitten der Dunkelheit auf. Zelia atmete tief ein, sammelte ihre Kräfte. Sie musste Antworten finden, verstehen, warum all dies geschehen war. Nichts erweckte es den Eindruck, Zufall zu sein, alles folgte einem geheimen Plan. Doch wessen Plan? Das galt es herauszufinden. Sie richtete sich auf, fokussiert auf dieses eine Ziel.
Nach einigen Augenblicken stampfte sie rhythmisch mit den Füßen, ein zeremonieller Takt, der sie durch die Dunkelheit führte. Plötzlich ertönte ein Klopfen von der rechten Wand. Sie erwiderte in einer anderen Abfolge. Ein Spalt öffnete sich auf der linken Seite, als ob ein Nebelschleier sich lüftete.
Schließlich trat sie in einen engen, abfallenden Gang, der tiefer in die Dunkelheit führte. Abgenutzte, rutschige Stufen zeugten von unzähligen Füßen, die diesen Weg zuvor gegangen waren.
Am Ende des Ganges öffnete sich ein großer, nebelverhangener Raum, erleuchtet von alten Fackeln. Deren flackerndes Licht tauchte die Wände in ein warmes Leuchten. Hier, in diesem verborgenen Heiligtum, traf sich der Untergrund von Naraka – ein Ort der Hoffnung inmitten der Unterdrückung, ein Sammelpunkt für jene, deren Herzen für Freiheit und Gerechtigkeit schlugen.
Die Wände des Raumes waren mit komplizierten Schnitzereien überzogen, die Szenen aus Narakas Vergangenheit darstellten – epische Schlachten, friedliche Zeiten und Darstellungen der Kymatik. Jede Fackel war in eine Vertiefung eingelassen, sorgfältig ins Relief geschnitzt, sodass das Licht die Geschichten zum Leben erweckte und ihnen eine dynamische, fast atmende Qualität verlieh. Das Holz war von einer Art, die von einer Zeit vor Naraka zeugte, als noch mächtige Bäume die Erdoberfläche durchzogen.
Sobald sie den dichten Nebel betrat, legte sich dieser wie ein Mantel um ihren Körper. Eine geschickte Vorsichtsmaßnahme des Anführers, um die Identität der Mitglieder vor Auren zu schützen.
Ein Gefühl von Zugehörigkeit und Entschlossenheit erfüllte sie, als sie die nebulösen Gestalten der anderen Rebellen erblickte. Hier, in den Tiefen unter Naraka, fühlte sie sich geborgen; als Teil einer größeren Bewegung, bereit für eine bessere Zukunft zu kämpfen.
Sie nahm auf einem der weichen, sanft leuchtenden Pilze Platz, die sich kreisförmig durch den Raum zogen.
Sechs der neun Mitglieder waren bereits anwesend. Die Abfolge der An- und Abreise war streng geregelt, um die Identität der Mitglieder zu schützen. Ihre Zahl mochte gering sein, doch jeder war sorgfältig ausgewählt, basierend auf den Informationen und Fähigkeiten, die sie für ihre Aufgabe benötigten.
Nach einiger Zeit traf ein weiteres Mitglied ein. Der Nebel konnte die winzige Gestalt des letzten Ankömmlings nicht verbergen. Liebevoll »Der Zwerg« genannt, war dieses Mitglied für Zelia eines der faszinierendsten – von ungeheurer Weisheit und strategischem Verstand. Zu gern würde sie die wahre Identität des Zwerges ergründen, doch die Geheimnisse dieser Gruppe waren gut gehütet.
Der Anführer, bekannt als »Gidim-Zu«, war stets an seinen strahlenden Augen zu erkennen. Er saß am gegenüberliegenden Teil des Kreises mit den neun Plätzen, sein Blick durchdringend und intensiv.
Durch den dichten Nebel konnte die Farbe seiner Augen nicht offenbart werden, als würde der Nebel die Farben in sich aufsaugen. Weiße, strahlende Augen drangen aus seiner Kapuze hervor – Augen wie aus Eis, bereit, alles zu tun, was für ihre Sache nötig war. Es waren Augen, die ihre Unschuld schon vor Äonen verloren zu haben schienen, wenn sie je welche besessen hatten.
Dieses schaurige Schauspiel war diesen strahlenden Lichtpunkten zu verdanken. Dieser Gedanke war Zelia immer suspekt. Diese Macht, zu mächtig für einen Menschen, wie sie fand... Und doch: Ohne diese Macht wären sie sicher alle in den tiefen Xibalbas als Zu-Kur gestorben – der Stadt auf ewig verwiesen.
Zelia spürte die Macht und Entschlossenheit, die von Gidim-Zu ausging. Seine Präsenz erfüllte den Raum, ein stiller Ruf zu Aufmerksamkeit und Respekt. Sie wusste, dass unter seiner Führung nichts unmöglich war, dass er bereit war, bis zum Äußersten zu gehen, um ihre Ziele zu erreichen. In diesem verborgenen Heiligtum des Widerstands sammelten sich jene, die bereit waren, für eine bessere Zukunft zu kämpfen – und Gidim-Zu war ihr Leuchtfeuer in der Dunkelheit.
Für einen kurzen Moment verlor sich Zelia in dem mystischen Anblick. Schon als Kind war sie fasziniert von all den Artefakten und Apparaturen und den Möglichkeiten, die sie boten. Doch ihr Wissen über die Kymatik war begrenzt, der Elite und den Kymisten vorbehalten – unter dem Vorbehalt, die Stadt vor Missbrauch zu schützen.
Zu gern wüsste Zelia, welche Form der Kymatik hier gewirkt wurde. Sie hatte oft darüber gerätselt und es analysiert. War dies tatsächlich Nebel? Ein Werk eines Sakral-Chakra-Nutzers? Oder die Illusion eines Stirn-Chakra-Nutzers? Oder entsprang es einem gänzlich anderen Chakra? Diese Fragen beschäftigten sie häufig, doch ihr stoischer Anführer hatte alle Vorkehrungen getroffen, um eine Aufklärung zu verhindern.
In ebendiesem Augenblick traf ein weiteres Mitglied ein: der »Turm«. Höchstwahrscheinlich ein Mann – von ungeheurer Größe und Statur. Seine Gestalt warf einen langen Schatten auf die anderen, und doch lag in der Art, wie er seinen Kopf neigte, um die niedrigen Gewölbe der Treppe zu passieren, eine stille Demut.
Die Fackeln flackerten sanft, als der »Turm« den Raum betrat. Ihre leuchtenden Blüten, in Farben von tiefem Purpur bis zu einem sanften Blau, schienen für einen Moment heller zu leuchten, als wären sie von der Anwesenheit dieses Kolosses ebenso eingenommen.
Ein kurzes, fast unmerkliches Nicken zwischen ihm und Gidim-Zu, nur zu erkennen durch eine feine Veränderung des Nebels um ihre Köpfe, verriet eine tiefe, unausgesprochene Verbindung – eine gegenseitige Anerkennung ihrer Stärken und der Lasten, die sie trugen.
Sie waren indessen zu acht. Zelia wurde schmerzlich bewusst: Sie waren nun vollzählig. Bei diesem Gedanken überkam sie erneut ein tiefer Stich in die Brust. Ein erneuter Anfall drohte sie zu überwältigen. Nicht hier, nicht jetzt! Obwohl sie den anderen vertraute, war es absolut verboten, Anhaltspunkte jeglicher Art über die wahre Identität preiszugeben. Zum Schutze aller Beteiligten! »Beruhige dich!«, mahnte sie sich selbst. »Atme!«
Ein einziger Patzer könnte bei einer Auslesung eines geschickten Auranen die ganze Gruppe auffliegen lassen. Dies war bereits in der Vergangenheit geschehen. Da es in Naraka keine Todesstrafe gab, wurden sie alle auf Lebenszeit der Stadt verwiesen, verdammt zu einem Leben als Zu-Kur. Alle tot.
Zelia atmete einmal tief durch, suchend, die Anspannung etwas zu lösen. Doch im nächsten Moment fand sie den strahlenden Blick des Anführers auf sich gerichtet. Undurchdringlich. Kalt. Und doch konnte sie nicht umhin, sich vorzustellen, dass ein Hauch von Geborgenheit in seinem Blick lag, verborgen unter dem dichten Nebel.
Für einen Augenblick saßen sie alle so da, in Stille; in Meditation. Nicht nur Zelia atmete tief und schwer. Anhand der Geräuschkulisse schienen mehrere Mitglieder ihren Stress vor Beginn dieser Zusammenkunft auszuatmen.
Die Stille des Raumes wurde nur durch das gelegentliche Knistern der Kymatik-Apparaturen unterbrochen, die in den Ecken des Raumes platziert waren. Ihre kristallinen Strukturen leuchteten in einem unruhigen Rhythmus, synchron mit dem unregelmäßigen Atmen der Anwesenden. Es war, als würden diese Artefakte der Alten Welt die emotionale Ladung des Raumes aufnehmen und widerspiegeln.
Nachdem dann völlige Ruhe den Raum einhüllte und nur der Nebel seicht im Lichte des Feuers tanzte, eröffnete Gidim-Zu:
»O Lichtbringer, der du durch die Finsternis weisest, schütze uns auf unseren Wegen durch die ewige Nacht. Vor dem Blauen Teufel, bewahre uns, führe uns fern von seiner Macht!«