Tokat schleuderte sie gewaltsam von sich und schritt entschlossen zum Loch. Er fixierte das Mädchen für einen Moment, seine Augen durchdrangen die Situation mit eiskalter Präzision. Doch tief in seiner Miene flackerte kurz ein Anflug von Bedauern auf, der die Härte seiner Fassade durchbrach. Sein Blick suchte Kamura, als wollte er stumm eine Antwort auf eine unausgesprochene Frage finden. Dann schloss er die Augen, konzentrierte sich auf etwas jenseits der bekannten Sinne. Ein langsames, verstehendes Nicken folgte, bevor er sich wieder dem Mädchen zuwandte.
»Mein Kind, du wirst nie wieder laufen können. Dein Energiefluss endet in deiner Hüfte. Aber es ist mehr als das. Es könnte sein, dass das Objekt, das dich dort festhält, das Einzige ist, was dich noch zusammenhält. Dein Schmerz muss unvorstellbar sein. Doch sollten wir dich befreien können, alsdann ja, das Leid könnte deinen jetzigen Zustand bei Weitem übertreffen. Ein qualvoller, schrecklicher Tod oder ...«
Tokat zögerte, griff in seinen Mantel und holte einen unscheinbaren Pilz hervor.
„Oder du beendest es hier und jetzt, gehst in Frieden – ohne Schmerz und Pein!«, erklärte er mit einer Sanftheit, die in starkem Kontrast zu seiner sonst rauen Stimme stand.
Kamura erkannte den Pilz sofort. Eines der wenigen Hilfsmittel, ohne die kein Zu-Kur je durch die Höhlen streift. »Aber das ist–«, begann er aufzuschreien.
»Das ist das Friedvolle, meine Kleine.« unterbrach ihn Tokat. »Die Entscheidung liegt bei dir. Aber zögere nicht. Meine Zeit ist kostbar, und ich habe eine Aufgabe zu erfüllen«, fügte er mit kalter Entschlossenheit hinzu.
Das Mädchen verstummte, ihr Geist plötzlich von einer noch tieferen Qual erfüllt. Die Last einer existenziellen Entscheidung spiegelte sich in ihrem Gesicht wider, wechselte zwischen tiefer Resignation und dem verzweifelten Wunsch zu überleben, jede Option abwägend.
Schließlich wich der Ausdruck aus ihren Augen. »Wird es wehtun? Wie lange wird es dauern?« Ihre Stimme zitterte, als sie auf den kleinen grauen Pilz in Tokats großer, vernarbter Hand deutete.
Schließlich wich der Ausdruck aus ihren Augen, wurde leer. »Wird es wehtun? Wie lange wird es dauern?«, ihre Stimme zitterte, als sie auf den kleinen grauen Pilz in Tokats großer, vernarbter Hand deutete.
Dieser wirkte sichtlich beruhigt über ihre Entscheidung, doch eine gewisse Tragik lag trotz seiner dämonischen Präsenz in seinem Blick.
»Es wird schnell gehen. Es sammelt sich bereits in deinem Speichel an. Dann wird es taub. Dann schläfst du ein. Und gehst mit Gaia. Und wenn sie es will, so wirst du einen neuen Körper bekommen und wir sehen uns eines Tages erneut!«, sprach Tokat mit fester Stimme.
»DAS REICHT!«, schrie Kamura. »DU MANIPULIERST SIE! FÜLL IHREN KOPF NICHT MIT DIESEN –«
Doch Zelia zog behutsam an seinem Ärmel. Auch sie hatte diese Option von Anfang an in Betracht ziehen müssen. Ihr mangelte es lediglich an Möglichkeiten. Kamuras Augen füllten sich mit Tränen. Hoffnungslosigkeit überkam ihn. Schließlich regte sich etwas tief in seinem Inneren. Eine ferne Erinnerung. Ein Versprechen.
»Wie soll ich sein Erbe antreten, wenn ich bei erster Gelegenheit versage?«, fragte er voll Reue. Zelia deutete ihm mit den Augen zu schweigen. Nervös schaute sie sich zu Tokat um, ob er zugehört haben könnte. Dann fuhr Kamura, der Zelias stumme Zeichen in seiner Emotionalität nicht zu entschlüsseln vermochte, im ernsten Tonfall fort. »Wie möchtest du uns ein Licht sein, wenn du das hier zulässt? Wir müssen es wenigstens versuchen!«
Der Schmerz dieser rauen Anklage durchschnitt die dichte Luft zwischen ihnen und hinterließ eine kalte Stille im Chaos um sie herum. Panik überkam Zelia, ihre Augen weiteten sich. Er mochte recht haben. Doch konnte er auch nicht wissen, dass Tokat aktuell die größte Gefahr für ihre Familie darstellt. Dass er auf der Suche nach ihr ist. Ein letztes Mal deutete sie mit ihrem Blick, er möge schweigen, machte mit den Augen Andeutungen zu gehen, als Tokat sich ihnen zuwendete.
Er beobachtet Kamura für einen Augenblick stumm. Seine Miene erneut eine undurchdringbare Mauer, hinter der sich eine undefinierbare Dunkelheit ausbreitete. Diese vertraute Verbindung zwischen den beiden, brach für ihn eines der Muster, mit denen er die Situation zu lesen gedacht hatte.
Schließlich kehrte er Kamura wieder den Rücken zu. Er bückte sich hinab in den Abgrund und übergab dem Mädchen den Schlüssel zu ihrer eigenen Erlösung. Kamura wandte sich ab, unfähig, das Folgende zu bezeugen.
„Gehe mit Gaia. Ich bleibe bei dir, bis sie dich holt!", sprach Tokat erneut mit einer Hingebung, die absolut nicht zur massiven Silhouette passen wollte, die ihnen gerade den Rücken zuwandte.
War vielleicht doch der rechte Augenblick? Wenn das Schicksal des Mädchens besiegelt war – Zelias Finger glitten bereits instinktiv zu ihren Nadeln. Umschlossen diesmalig gleich drei Stück, zwischen jedem Finger ihrer Faust eine. Aus einem guten Winkel könnte sie so direkt drei Meridiane treffen. Und Tokat würde es nicht einmal merken.
Währenddessen hielt das Mädchen ihr Schicksal in den Händen. Ihr Schmerz –jetzt noch so unvorstellbar und akut – würde schon gleich eine ferne Vergangenheit sein. Sie betrachtete diesen seltsamen, schrumpeligen Pilz. Seine Oberfläche erinnerte an gealterte, verbrauchte Haut. Auch roch er eher wie etwas Verdorbenes.
Für einen Moment schaute sie zu Tokat hoch, den Ekel ins Gesicht geschrieben – ebenso wie ein plötzliches Gedankenspiel, ob diese Abscheulichkeit ihren Effekt überhaupt wert wäre. Ein kurzer Schmunzler überkam die Kleine, bei der Absurdität dieser Gedanken. Dann fasste sie den Entschluss. Sie blickte ein letztes Mal umher. Ihr Herz schlug stark. All das Leid. Das Schreien. Menschen irrten noch immer wie ein aufgewühlter Insektenhaufen umher. All das würde nun ein Ende haben. Ihr Blick schweifte über diese leidvolle Welt, während sie langsam die Hand zum Mund führte – sichtlich bemüht, durch den Mund zu atmen, um den penetranten Geruch zu umgehen.
Sie öffnete ihren Mund, legte den Pilz behutsam hinein und schloss den ihn, als in der tosenden Menge, die sich langsam bei der tragischen Szene versammelt hatte, plötzlich ein paar Augenpaare auffielen. Ruhig, ungebrochen, auf sie gerichtet. Kraftvoll, grün und leuchtend.