Taoh zuckte zusammen, als er realisierte, dass er nicht allein war. Er hatte niemanden kommen hören. Der Weg zur Plattform war eng und schwer passierbar, mit losen Steinen und schmalen Pfaden, die eigentlich jeden Schritt verraten sollten. Dennoch stand dort nun jeder Logik zum Trotze dieser Fremde.
Mit aufgerissenen Augen wandte sich Taoh dem Fremden zu. Eine Gestalt zeichnete sich aus der Dunkelheit ab. Erst der Umriss eines riesigen Pilzhutes, ein dicker Fellmantel mit filigranen ethnischen Mustern, die sich wie ein farbenfroher Teppich über seine Gestalt legten.
Zweifelsohne: ein Zu-Kur.
Der Mann lächelte, sodass sich sein älteres Gesicht in sympathische Falten legte und sich Grübchen über seine Wangen zogen. Seine Augen waren durch die runden Brillengläser, welche das farbenfrohe Panorama vor ihnen reflektierten, kaum erkennbar.
»Die Erde spricht zu denen, die bereit sind, zuzuhören«, sagte er schließlich, seine Stimme ebenso beruhigend wie das Flüstern um sie herum, während er mit einem schlangenförmigen Gehstock, der seine eigene Körpergröße übertraf, auf Taoh und den Rand der Klippe zuging. Jede seiner Bewegungen war bedacht und fließend, als wäre er eins mit seiner Umgebung.
Taoh, noch immer überrascht von der plötzlichen Gesellschaft, fand bald seine Fassung wieder.
»Ich … Ich habe es noch nie zuvor gehört«, gestand er flüsternd, als wollte er den Klang nicht stören. Ein Gefühl von Ehrfurcht und Verwunderung durchströmte ihn, als er über die Bedeutung der Worte des Zu-Kur nachdachte.
Viele leben ihr ganzes Leben in Naraka, ohne jemals Gaias Atem zu vernehmen. »Es erfordert Stille, nicht nur um dich herum, sondern auch in dir«, antwortete der Zu-Kur, setzte sich neben Taoh und blickte verträumt in die Ferne.
Taoh nickte langsam. »Es ist … wunderschön!«, hauchte er.
Der Zu-Kur lächelte sanft, seine Augen funkelten mit einem wissenden Glanz hinter den trüben Brillengläsern. Sein Blick schweifte in die Ferne, als würde er dort etwas sehen, das Taoh verborgen blieb.
»Fürwahr … dies ist Gaias Atem«, stimmte er in das Staunen mit ein. Einige sagen, es ist die Erde selbst, die zu uns spricht. Eine Botschaft, die tief in den Winden verborgen ist.
»Eine Botschaft?«, wiederholte Taoh, sein Interesse geweckt, während er den Zu-Kur mit einem Hauch von Misstrauen betrachtete.
Verträumt blickten beide in die Ferne und lauschten dem Spektakel der Natur. Dieser seichte Wind schaffte es für einen kurzen Augenblick sogar Taohs Schwermut mit sich zu nehmen, und der Anblick der Stadt schien nun etwas Hoffnungsvolles zu haben – wie sich das Leben selbst an diesem lebensfeindlichen Ort aufbäumte und gedieh. Das wenige Licht, das in all der Dunkelheit existierte, war von einer eigentümlichen Schönheit, mit all den Reflexionen der feuchten Wände und Böden, begleitet von der Symphonie des Windes.
»Dieser Ort hat etwas Beruhigendes, findest du nicht auch?«, sprach der Fremde weiter, während er einen entspannten Seufzer von sich gab.
Taoh nickte zögerlich, noch immer hin- und hergerissen zwischen der Faszination für die Worte des Zu-Kur und einer instinktiven Vorsicht. »Ja, das hat er«, antwortete er leise, während er den Fremden betrachtete, dessen Augen hinter den trüben Brillengläsern funkelten.
»Ja, das hat er«, antwortete der Zu-Kur.
»Es ist der einzige Ort, an dem ich denken kann«, gestand Taoh, die Worte vorsichtig wägend. Er war sich nicht sicher, wie viel er diesem rätselhaften Mann anvertrauen konnte, doch etwas in ihm sehnte sich danach, sich zu öffnen. Aber sag mir, warum bist du hier? »Was führt dich an diesen abgelegenen Ort?«, fügte Taoh dennoch sofort hinzu.
Der Zu-Kur lächelte noch immer, doch in seinen Mundwinkeln blitzte etwas auf, das Taoh nicht ganz zuordnen konnte – eine unterschwellige Anspannung, die seine sonst so gelassene Fassade für einen Moment durchbrach.
»Die Stille hier oben spricht lauter als das geschäftigste Treiben dort unten«, erwiderte er und deutete auf die Stadt, die sich unter ihnen erstreckte, eingehüllt in das schwache Licht der Lumiflora.
»Sie erzählt Geschichten für diejenigen, die zuhören wollen.« Sein Blick schweifte wieder in die Ferne, als könnte er durch die dichten Felswände hindurchsehen.
Etwas perplex über die wagen Aussagen des Fremden bemerkte Taoh nun erste Anzeichen, dass vielleicht etwas nicht stimmen mochte. Vielleicht war dieser Mann ja auch nur einer der abtrünnigen Zu-Kur. Ein Menschenhändler? Ein heftiger Stoß seines Herzens und der Impuls zum Fliehen überkamen ihn.
Doch das stoische Lächeln des Fremden blieb bestehen. Taoh fixierte den Fremden unauffällig. Es war weniger das Gesicht des Zu-Kur, als vielmehr seine Präsenz, als würden sanfte Wellen des Friedens von ihm ausgehen.
»Und welche Geschichten haben Sie gehört?«, fragte Taoh, wieder vom Geheimnis dieses Mannes in den Bann gezogen. Schließlich hätte er ihn doch schon lange packen können, wenn es ihm darum ginge … Oder nicht?
»Geschichten von Zyklen«, antwortete der Zu-Kur, während er seinen Blick in Richtung Stadttore zuwandte und seine Augen kurzzeitig das schwache Licht einfingen. Taoh war, als würde kurz ein wildes Feuer für den Bruchteil einer Sekunde in den Augen des Fremden entflammen, bevor es wieder erlosch und glasigen Augen wich. Schließlich fügte er hinzu:
»… Von Aufstieg und Fall, von Hoffnung und Verzweiflung.« »Von mutigen Seelen, die glaubten, sie könnten die Dunkelheit zähmen, und von den Weisen, die lernten, mit ihr zu leben.«
Taoh spürte, wie die Worte des Fremden eine Saite in ihm zum Klingen brachten, eine unterschwellige Resonanz, die er nicht ganz greifen konnte. »Und was haben Sie daraus gelernt?«, wagte er zu fragen. Seine Neugier geweckt, doch ahnte er, dass die Antwort sein Weltbild ins Wanken bringen könnte.
Der Zu-Kur wandte sich Taoh zu. Dass der mutigste Kampf manchmal der ist, den wir gegen unsere eigene Natur führen. Dass es eine Form von Mut gibt, die in der Akzeptanz liegt, nicht in der Rebellion. In einer Welt, die ständig in Bewegung ist, in einem unaufhörlichen Zyklus von Aktion und Reaktion, gibt es vielleicht eine Stärke im Stillstand. Im Zuhören.
»Im Verstehen, dass nicht jede Frage eine sofortige Antwort erfordert, nicht jede Herausforderung eine Aktion.«
»Aber bedeutet Akzeptanz nicht eine Aufgabe?«, fragte Taoh, die Unsicherheit in seiner Stimme kaum verborgen.
Akzeptanz ist keine Aufgabe. »Es ist eine Wahl«, erwiderte der Zu-Kur mit einem nachsichtigen Lächeln, das seine Augenpartie nicht ganz erreichte. »Die Wahl zu verstehen, zu lauschen und zu lernen.« »Die Wahl, im Einklang mit der Welt um dich herum zu leben, statt gegen sie …« Die Welt ändert sich ständig, und doch bleibt sie immer gleich. Zu lernen, mit dem Fluss zu gehen, anstatt gegen ihn zu kämpfen, das ist wahre Weisheit.
»Und wie gelangt ausgerechnet ein Zu-Kur zu solcherlei Erkenntnissen?«, fragte Taoh leicht argwöhnisch. Seine Augen suchten das Gesicht des Fremden nach Anzeichen von Täuschung ab.
»Wer sollte zu solch einer Erkenntnis kommen, außer demjenigen, der die Welt außerhalb des Komforts von Sicherheit, Werten und Normen lebt?«, entgegnete der Zu-Kur mit angehobener Augenbraue und einem verschwörerischen Lächeln. Die Weisheit liegt oft jenseits der ausgetretenen Pfade, verborgen in den Schatten und Zwischenräumen des Geistes.
Nach diesen Worten erhob sich der Zu-Kur langsam, sein Blick noch immer in die Ferne gerichtet, als würde er Abschied von einem alten Freund nehmen. Die Bewegung ließ seinen Mantel rascheln, ein Geräusch, das sich mit dem Flüstern des Windes vermischte. »Die Zeit ist ein seltsamer Gefährte«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Taoh. Sie bringt uns zusammen und führt uns wieder auseinander, oft auf Wegen, die wir nicht vorhersehen können«
Er wandte sich Taoh zu, ein warmes Lächeln auf den Lippen. Ich danke dir, mein Junge. »Du hast mich an etwas Wichtiges erinnert.«
Taoh lachte überrascht auf. »Ich habe doch gar nichts Gescheites zu der Unterhaltung beigetragen«, gestand er, während er den Blick des Zu-Kur erwiderte.
»Oh, aber das hast du«, erwiderte der Zu-Kur mit einem wissenden Lächeln, das seine Augen zum Funkeln brachte. Er hielt kurz inne, seinen Blick in die Ferne schweifend, als würde er dem Flüstern des Windes ein letztes Mal lauschen. Dann schenkte er Taoh ein tiefes, bedeutungsvolles Lächeln. »Auch wenn die Worte aus meinem Mund kamen …«, begann er, seine Stimme sanft wie der Wind, der über die Klippe strich. »… so waren es doch die Worte von Gaias Flüstern, die durch mich sprachen. Und deine Präsenz, ohne welche die Stimme vergebens im Winde verhallt wäre."
Er trat einen Schritt näher an Taoh heran. In diesem Moment, auf dieser Klippe, waren wir beide genau da, wo wir sein sollten – verbunden durch eine Kette von Ereignissen, die uns hierhergeführt haben, um genau diese Erkenntnis zu teilen. »Meinst du nicht auch?«
Mit diesen Worten trat der Zu-Kur zurück in die Schatten. Taoh, den die Ruhe und die seltsame Aura dieses Fremden faszinierten, blinzelte – ein kurzer, unwissender Augenblick des Zweifels. Als er seine Augen wieder öffnete, war der Zu-Kur verschwunden.
Er stand regungslos da, sein Blick auf die Leere gerichtet, wo der Zu-Kur gestanden hatte. Ein Wirbel von Emotionen durchströmte ihn – Verwunderung, Unsicherheit, aber auch eine seltsame Art von Frieden. Diese unerklärliche Abwesenheit ließ ihn an der Realität seiner Begegnung zweifeln. War der Zu-Kur real gewesen? War Ihr Gespräch mehr als eine Manifestation seiner inneren Konflikte gewesen?
Als er schließlich den Blick von dem leeren Platz abwandte, griff Taoh nach der geschnitzten Holzfigur in seiner Tasche. Seine Finger strichen über ihre raue Oberfläche. Er spürte, wie eine Träne über seine Wange rollte. Dann, mit einer behutsamen Bewegung, platzierte er die Figur auf einer kleinen Erhebung der Klippe, gleich eines Wächters, hoch über dem Herzen der Stadt. Ein letzter Blick, eine seichte Verneigung und er ließ sie in der Dunkelheit zurück.
Während er sich behutsam von der Klippe hinabließ, erhaschte er ein Wesen von unerwarteter Anmut: ein Leuchtkäfer, dessen sanftes goldenes Glühen im Kontrast zur umgebenden Schwärze stand. Dieses winzige Licht wirkte wie ein Juwel der Hoffnung, das mutig gegen das erdrückende Dunkel ankämpfte.
Der Leuchtkäfer flog vor Taoh in der Luft, seine Bewegungen so anmutig und präzise, als würde er zu einer uralten, längst vergessenen Melodie tanzen, zu der nur sie beide die Schritte kannten. Taohs Augen weiteten sich vor Staunen. Sein Mund öffnete sich leicht, als er die Schönheit dieses Moments in sich aufnahm.
Dann, als hätte der Leuchtkäfer die stumme Bitte in Taohs staunendem Blick verstanden, wandte dieser sich mit einem anmutigen Schwung ab und tänzelte in Richtung der Stadt am Horizont davon. Das lebendige Licht wusste, wohin der Weg führte. Unter dem Leuchtkäfer breitete sich ein farbenfroher Lichterteppich aus.
Am Horizont erhob sich aus dem Zentrum der Stadt ein massiver Kristall-Obelisk. Die Lumiflora reflektierte das Licht und schuf ein Netz aus leuchtenden Pfaden, die sich durch die Stadt zogen wie die Adern eines lebendigen Wesens.
Der majestätische Tänzer sank im Steilflug bergab und manövrierte sich dann geschickt durch belebte Gassen, in denen geschäftige Rufe und Gespräche hallten und Kinder spielten – ihre Gesichter, ein Spiegel der Unschuld und Freude.
Kleine Parks mit allerhand leuchtenden Pflänzchen, deren Blätter von kleinen lumineszenten Adern durchzogen waren, unterbrachen die aus Titan-Pilzen bestehenden Siedlungen und boten Orte der Ruhe und Entspannung für Artgenossen aller Art. Am Firmament schimmerten schwache goldene Lichtpunkte.
Ein seichter Nebel, gebildet durch die aufsteigende Feuchtigkeit aus den Tiefen der Stadt, formte eine wolkenähnliche Schicht, aus der ein leichter Sprühregen entwich, welche jeglicher Lichtquelle ihren ganz eigenen Schimmer verlieh, der aus dem richtigen Winkel stets regenbogenfarbene Lichtspiele erzeugte.
Sein Weg führte ihn tiefer in die Stadt, vorbei an den imposanten, geschwungenen Gebäuden aus Stein und schließlich hinab in die dunkleren, verwinkelten Gassen. Hier wurde das Leuchten des Käfers langsam zu einem einsamen Lichtpunkt inmitten der nebligen Dunkelheit.
Schließlich tauchte der Käfer völlig in die Schatten des Duat ein, sein einsames Leuchten, ein letzter Solitär inmitten der Dunkelheit. Die Luft war schwer von den unerzählten Geschichten derer, die im Verborgenen lebten, deren Existenz nur als Flüstern am Rande des Lichts wahrnehmbar war. Der Duat mit seinen versteckten Winkeln und geheimen Versammlungsorten barg die ungeschriebenen Kapitel Narakas, Geheimnisse, die darauf warteten, enthüllt zu werden.
Als der Leuchtkäfer sich erschöpft auf einem niedrigen Mauerwerk niederließ, legte sich eine bedrückende Stille über den Ort, nur durchbrochen vom klagenden Schrei eines hungrigen Säuglings. Plötzlich erwachten große, dunkle Augen aus den Schatten, ihr Blick auf den leuchtenden Eindringling gerichtet. Für einen flüchtigen Moment war es, als ob das sanfte Glühen des Käfers eine stille Frage in diesen Augen aufzuwerfen – eine Frage so alt wie die Menschheit selbst. War es möglich, dass selbst in den dunkelsten Ecken Narakas noch Schönheit und Magie existieren konnten? Doch die harte Realität des Überlebens ließ keinen Raum für solch hoffnungsvolle Träumereien.
Mit schnellen, geübten Bewegungen fing der Straßenjunge in seinen orangefarbenen Lumpen den Leuchtkäfer ein. Er betrachtete ihn kurz in seiner leuchtenden Hand. Das goldene Licht ließ sein verfilztes Haar für einen Augenblick wie eine majestätische Krone erscheinen. Dann, mit einem leisen Seufzer der Resignation, führte der Junge den Käfer zum Mund und ließ ihn in der Dunkelheit verschwinden, die ihn umgab. Das letzte Aufblitzen seines Leuchtens verlor sich in den Schatten: Ein einsamer Stern, der in der Unendlichkeit der Nacht verglühte. Mit dem Erlöschen dieses letzten Schimmers hatte die allgegenwärtige Finsternis des Duat ihre unbestrittene Herrschaft zurückgewonnen.
Die Stille, die diesen Moment umfing, wurde jäh durch den fernen Klang von Schritten durchbrochen. Entschlossen und unaufhaltsam hallten Kamuras Schritte durch die verwinkelten Gassen des Duat. Der Junge, der die ungeschriebenen Gesetze des Überlebens in diesen finsteren Wegen kannte, zog sich hastig zurück und verbarg sich vor den fremden Augen, die Gefahr bedeuten konnten.