Yagas Worte waren durchtränkt von tiefster Verbitterung. Ihre raue Stimme trug das Gewicht einer unerträglichen Entscheidung.

Ein schriller Aufschrei zerriss plötzlich das vorherrschende Chaos. Taoh machte eine instinktive, scharfe Wendung, sein Blick flackerte zwischen Yaga und Kamura hin und her. Kamura sank zusammen, wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich durchtrennt wurden, geschwächt und überwältigt von einer unsichtbaren Last. Yaga war in der Lage, jedes Detail zu analysieren, jede mögliche Konsequenz zu bedenken.

Blitzschnell reagierte Taoh, seine Arme fingen Kamura auf, hielten ihn sicher und fest. »KAMURA!«, rief er, seine Stimme durchdrungen von Panik, während er seinen Bruder schüttelte. Kamuras Augen öffneten sich schwach, sein Blick trüb. »Verzeiht ...«, hauchte er.

Als sich der Staub der Verwirrung ein wenig zu legen begann, fiel Taohs Blick auf etwas Ungewöhnliches: Eine Kette mit dunklen Steinen, die sich um Kamuras Hals schmiegte, nun sichtbar durch die hastigen Bewegungen.

»Obsidian ...«, flüsterte Taoh, seine Verwirrung spiegelte sich in jedem Wort. »Wie ... wann hast du-«

Ehe er weiterfragen konnte, schnitt Yagas Stimme durch die Luft, schärfer und dringlicher als zuvor.

»Ich sagte bereits, geht jetzt! Sputet euch! Ihr werdet eure Antwort schneller bekommen, als euch lieb ist«, sagte sie, ihre Stimme trug trotz der Strenge einen Unterton von Mitgefühl, getrieben von der Notwendigkeit, sie vor etwas zu schützen, das größer war als ihre Fragen, größer als das Hier und Jetzt.

Taoh, verwirrt, aber angespornt durch Yagas eindringliche Worte, half Kamura auf die Beine.

Kamura murmelte geistesabwesend vor sich hin:

»Verzeihung, verzeiht mir. Ich weiß selbst nicht, was vor sich geht. Doch etwas ist grundlegend falsch. Und es steht uns zu, dies zu erkennen!«, sprach er, seine Stimme getränkt in einem tiefen Bedauern.

Ohne einen weiteren Blick zu wagen, verließen die Brüder den Raum. Taoh stützte seinen geschwächten großen Bruder, während Yagas Augen ihnen, erfüllt von einem stillen Verständnis und Mitgefühl, nachsahen.

Erneut fanden sie sich in der erdrückenden Dunkelheit der Gänge wieder. Die düsteren, undurchsichtigen Korridore verschluckten sogleich ihr leises Tappen, als Kamura sich, den Rücken an die kalte, feuchte Wand gelehnt, dem Strudel seiner Gedanken hingab. Er versuchte verzweifelt, ein Licht in das Dunkel seines verstörten Verstandes zu bringen.

»Was zum blauen Teufel war das eben?«, hauchte Kamuras Stimme ungläubig. »Meine aktivierten Augen erhaschten nur einen flüchtigen Blick ...« Sein Tonfall war entrückt, unwirklich, als würde er aus einem fernen, unergründlichen Abgrund zu ihnen sprechen.

Taoh spürte, wie sein Herz in wilden Schlägen gegen die Brust trommelte, ein rasendes Pochen, das drohte, seine Kehle zu verschließen. »Was ... was hast du gesehen?«, stammelte er, seine Stimme ein zittriges Flüstern, getragen von einer Mischung aus Furcht und unaufhaltsamer Neugier.

Kamura atmete tief durch, ein Atemzug, der die erdrückende Stille zerschnitt. Er hob den Blick, ein schwacher Lichtschimmer in der allumfassenden Dunkelheit, die einzige Quelle von Licht und doch so voller Schatten.

Ohne die Züge seines Gesichts erkennen zu können, sah Taoh in Kamuras Augen einen Schrecken, der sich tief in dessen Innerstes eingegraben haben musste.

»Es war nur ein Moment, aber was ich sah ... es war nicht außerhalb, sondern in mir ... Bilder von Menschen, gefangen in den Klauen des blauen Teufels, verloren in den endlosen Tiefen der Höhlen ... Sie bewegten sich wie Marionetten, zerrissen zwischen blinder Ergebenheit und verzweifelter Hoffnung, ausführend seine düsteren Befehle. Krieg ... Tod ... und dann Wasser ... so viel ... mehr, als alles, was ich je gesehen habe! Und ... Ghouls ... vor den Toren Narakas! Wir müssen umkehren, Taoh! Yaga hatte recht, die Schatten regen sich!«, rief Kamura verzweifelt aus.

Seine Worte hallten mit einem markerschütternden Ernst nach. Der ungewöhnliche Anblick seines verletzlichen großen Bruders, der so offen seine Ängste zeigte, jagte Taoh einen kalten Schauer über den Rücken.

Ein Sturm aus Besorgnis und Entschlossenheit wütete in Taohs Innerem. Die Offenbarungen Kamuras hatten eine zitternde Eintracht in seinen Sinnen entfacht. Er spürte den Sog der Gefahr, die sich wie ein dunkler Schleier über die Finsternis der Höhle legte.

»Du ... Kamura?«, traute er sich schließlich zu fragen. »Ich hab' das auch schon mal gesehen ... in meinen Träumen ... da sehe ich den blauen Teufel auch. Herrschend ... uns beherrschend ...«

Er wollte gerade weiter sprechen, als Kamura ihm schwere, kalte Steine in die Hand drückte. Nur Augenblicke später stand Kamura wieder auf, seine Augen funkelten erneut auf, und eine neue Kraft durchströmte ihn, die den Rückweg nun entschieden einfacher erscheinen ließ.

Schließlich fand Taoh jene Worte, die in der Schwere des Moments fast zu verwehen drohten:

»Kann es wirklich sein? Der blaue Teufel, all diese Legenden ... und jetzt dies ... Fliehen wir etwa vor einer Fabel, die einst dazu diente, Kindern Gehorsam aufzugzwängen?«

Kamura antwortete mit einem Lächeln, das, obgleich in Dunkelheit gehüllt, nahezu so leuchtend wirkte wie seine glühenden Augen: 

»Manchmal, mein Bruder, sind es eben jene alten Erzählungen, die ihre Wurzeln tief in den dunkelsten Ecken der Realität schlagen. Vielleicht ist nun die Zeit gekommen, den Legenden unserer Kindheit mit einem etwas offeneren Geist zu begegnen«

»Niemand hat jemals den blauen Teufel gesehen ... außerdem habe ich noch nie gehört, dass der Styx überlaufen könnte!«, murmelte Taoh trotzig und ungläubig.

Kamuras Augen glänzten im fahlen Licht des Duats reflektiert, verliehen seinem Blick eine beinahe unheimliche und unnatürlich anmutende Macht.

Nachdenklich ließ Taoh die kalten, glatten Steine in seiner Tasche durch seine Finger gleiten, ein leises Klicken in der Stille, während er mit zügigen Schritten über die Bedeutung von Kamuras Worten sinnierte. »Und was, wenn das nur der Anfang ist?«, seine Stimme, ein sanftes Murmeln, trug die Schwere unergründlicher Gedanken, während er die Möglichkeit unentdeckter Welten unter ihren Füßen erwog.

Mit einer Entschlossenheit, die in seiner Stimme mitschwang, ein festes Band, das sie in der undurchdringlichen Dunkelheit zusammenhielt, erwiderte Kamura, während sie unbeirrt voranschritten:

»Dann, Taoh, dann werden wir diesen Abgründen gemeinsam begegnen. Mit offenen Augen, mit offenem Herzen, bereit, die Wahrheiten, die sich hinter den Schatten verbergen, ans Licht zu bringen.« Seine Worte, getragen von der Kraft eines unerschütterlichen Willens, schienen die Dunkelheit um sie herum zu durchdringen, als ob sie selbst ein Licht wären, das fähig ist, den Nebel des Unbekannten zu lichten.

Kamuras Worte wirkten wie eine unsichtbare, schwere Rüstung, die Taoh jeden Schritt wie einen Kampf erscheinen ließ.

»Die Ghouls ...«, ein Gedanke, der sich durch Taohs Bewusstsein zog wie ein kalter Nebel, der sich in den tiefsten Tiefen von Xibalba ausbreitete.

Ja, sie waren eine Bedrohung, ein Schatten, der die Welt außerhalb der Stadt durchzog. Doch die Legenden ihrer Sichtungen endeten stets in der Ferne, weit entfernt von den monumentalen Toren Narakas. Ihre Existenz blieb ein Raunen in den unergründlichen Tiefen der Dunkelheit, niemals manifestierend auf den pulsierenden Märkten vor den Stadttoren.

Die Kymisten, diese Wächter im Zwielicht, hielten die Mutanten in Schach – Kreaturen von Furcht einflößender Kraft, doch entbehrend der finsteren Intelligenz, die nötig wäre, um die Bastionen der Zu-Kur zu überwinden. Und doch, in den Augen Kamuras und Yagas, las Taoh eine Furcht, die seine eigene bei Weitem überstieg. Dieses grausame Szenario, zu dunkel, um es auch nur zu benennen, schob er in die hintersten Winkel seines Geistes.

Auf ihrer zügigen Rückreise durch das Gewirr von Gängen des Duats schienen Kamura und Taoh nicht durch den Raum zu bewegen. Vielmehr krümmten sich Zeit und Raum um ihre zittrigen Herzen, während sie den Fokus wie im Tunnelblick nur auf den direkten Heimweg richteten, der sich allmählich im Schatten abzeichnete.

Zwischen diesen Worten streckte Kamura fordernd die Hand nun nach Taoh aus. Instinktiv ergriff Taoh die Hand. Kamura schüttelte den Kopf.

»Die Kette, Taoh«, sagte Kamura lächelnd; den Kopf schüttelnd. Er zog sie gekonnt in einer flüssigen Bewegung über den Hals und seine Augen erloschen zu ihrer tiefen blauen Farbe. Jetzt, da sie wieder ihre Hand vor Augen sahen, begannen sie ihren Sprint den Abhang hinauf.

Sie sprinteten, angetrieben von einer inneren Flamme, bis ihre Lungen in der kalten feuchten Luft brannten, und liefen dann weiter, als ob jede Schrittlänge sie weiter von dieser ungewissen Zukunft entfernen würde.

Als die beiden, keuchend und außer Atem, den steilen Aufstieg durch den Abzu bewältigten und schließlich über den indessen weniger belebten Markt schlichen, hatte sich eine seltsame Anspannung wie ein unsichtbarer Schleier über alles gelegt.

Ihre Blicke trafen sich in einem stummen Dialog, gefüllt mit der unausgesprochenen Frage, was diese drückende Stille zu bedeuten hatte. Die Hände zitterten leicht. Eine innere Unruhe breitete sich in ihren Körpern aus. Jedes Herz schlug einen hektischen Rhythmus, als wäre es darauf bedacht, der Stille zu entfliehen, während kalter Schweiß ihre Stirn bedeckte.

Die Welt um sie herum hatte sich verändert: Das ferne Murmeln der letzten Händler, das Knarren eines verlassenen Standes im Wind, jedes Geräusch ließ sie zusammenzucken. Vereinzelt unterbrachen hektische Rufe die Stille.

Um sie herum trug der Markt nun ein neues Gewand; was einst ein Ort voller Leben und Farbe war, wirkte jetzt gedämpft, als ob die Farben selbst vor der Anspannung zurückwichen. Die Lumiflora, die normalerweise ein sanftes Licht spendeten, erschien ihnen jedoch in einem unheimlichen Schimmer, nun, wo der einst so lebendige Markt so merkwürdig verlassen und tod wirkte. Kamura wurde sichtlich nervöser. Er selbst hatte in all den Jahren noch nie erlebt, dass es auf dem Markt von Naraka eine Ruhepause gab.

In den Gesichtern der wenigen, die noch unterwegs waren, spiegelte sich ihre eigene Furcht. Flüchtige Blicke und hastig geflüsterte Worte unter den Passanten zeichneten ein Bild der Unruhe, eine stumme Anerkennung, dass etwas am Werk war, das weit über das alltägliche Leben hinausging.

Taoh, von der düsteren Atmosphäre umfangen, hatte seinen scharfen Blick auf die Umgebung gerichtet. Während sie, noch immer umhüllt von der wabernden Anspannung, ihre Umgebung in sich aufsogen, kreuzten seine Blicke plötzlich auf unbequemer Weise bekannte Augen, welche ihn seinen zügigen Spurt kurz ins Straucheln brachten: der Händler von vorher.

Der Händler, scheinbar gefangen in einer eigenen Welt der Besorgnis, nahm die beiden kaum wahr – oder vielleicht waren ihm in diesem Augenblick andere Sorgen wichtiger. Mit hastigen, fast mechanischen Bewegungen räumte er die letzten seiner Waren in sein Lager, als ob er damit die drohende Gefahr aussperren könnte. Kurz bevor er sich vollends zurückzog, blieb er, scheinbar mit sich selbst hadernd, wie angewurzelt stehen, den beiden den Rücken zukehrend.

»Was macht ihr denn noch hier? Ihr beiden geht jetzt besser schnell nach Hause, klar?« Seine Stimme, ein Zischen durch zusammengebissene Zähne, trug trotz der Härte einen unverkennbaren Unterton von Fürsorge.

Mit einem letzten, bedeutsamen Blick schlug er die schwere Tür zu seinem Lager hinter sich zu. Das Klirren der schließenden Schlösser, schien in der unheimlichen Stille fast von den hunderte Meter hohen Decken der Höhlenstadt zu hallen. Erneut tauschten die beiden einen Blick, gefüllt mit Rätseln und wachsender Sorge.

Sie erreichten schließlich ihr Zuhause: den imposanten fünfstöckigen Titan-Pilz, der sich stolz und unerschütterlich gegen den nassen Fels abhob. Auf den ersten Blick war alles wie immer. Oder war es eine trügerische Normalität, die Taoh ein flüchtiges Gefühl der Beruhigung schenkte?

»Endlich zu Hause«, dachte er, während er sich ein Ende dieses sonderbaren Tages herbeisehnte, vielleicht sogar begleitet von einer von Eladans köstlichen Pilzpfannen.

Mit verlangsamten Schritten, bemüht, den verlorenen Atem wiederzufinden, warfen sie einander prüfende Blicke zu, stets auf der Suche nach einem Zeichen der Beunruhigung im anderen. Doch nichts – keine verdächtigen Schatten oder Geräusche, keine Anzeichen einer verborgenen Bedrohung – trübte den Weg zu ihrer Zuflucht.

Als sie die weichen Stufen ihres heimischen Titan-Pilzes erklommen, durchbrach plötzlich das Geräusch erhobener Stimmen die vorherrschende Stille – eine ungewöhnlich angespannte Diskussion, die wie ein Fremdkörper in der sonst so friedlichen Atmosphäre ihres Haushalts wirkte. Kamura, mit einem instinktiven Gespür für Vorsicht, legte Taoh beschwörend den Finger auf die Lippen, ein stummes Signal, kein weiteres Geräusch zu verursachen. Sie verharrten, fast wie zu Stein erstarrt, lauschend an der Schwelle ihres eigenen Heims.

Die Stimmen, gedämpft durch das dicke Fleisch des Titan-Pilzes, klangen dennoch deutlich genug, um die Anspannung und Dringlichkeit ihrer Worte zu erkennen. Taohs Herz schlug schneller, die letzte Spur von Beruhigung wich einer nagenden Ungewissheit. Kamura nickte ihm zu, ein stummer Aufruf, weiterhin lautlos zu bleiben und jeden ihrer Schritte mit Bedacht zu wählen. Sie bewegten sich mit der Präzision von Schatten, bereit, jedem Zeichen von Gefahr zu begegnen, das ihr eigenes Heim in eine Arena unbekannter Konflikte verwandelt hatte.

Die Stimmen ihrer Eltern, sonst ein Inbegriff der Harmonie und des Verständnisses, waren nun aufgeladen mit einer Intensität, die den beiden bis dahin unbekannt war. Es war, als würden sie Zeugen des ersten Streitgesprächs werden, ein seltener Einblick in die verborgenen Spannungen, die selbst die stärksten Beziehungen unter Druck setzen können.

Die Worte, die sie austauschten, waren schwer zu verstehen, doch der Tonfall, die Pausen und das gelegentliche Anschwellen der Stimmen malten ein deutliches Bild der Besorgnis. Die Diskussion, obwohl leise und durch die Tür gedämpft, trug dennoch die unverkennbaren Zeichen einer tiefgreifenden Uneinigkeit.

Es war, als ob die Wände selbst, die jahrelang Zeugen der Liebe und des Lachens ihrer Familie gewesen waren, nun den Atem anhielten, erfüllt von der Spannung des Augenblicks, während die beiden vorsichtig die Ohren an die Tür legten, die sie bis eben noch um jeden Preis passieren wollten.

»Du weißt genau, was das bedeutet«, sprach Eladan mit Bestimmtheit, jedoch mit einer ungewöhnlichen Schärfe und Dringlichkeit in seiner Stimme, die sie zuvor noch nie gehört hatten.

»Und welch verdrehte Ironie könnte uns dazu verleiten ... nach allem, was wir getan haben ... wovon wir heute Zeugen wurden ... es ist weit schlimmer als alles, was wir uns je vorstellen vermochten. Und ich werde niemals ein Teil davon sein!«

Plötzlich zerschellte ein Glas. Ein angsterfülltes Zucken, der Impuls, durch die Tür zu stürmen – gelähmt von der Angst, was sie vorfinden würden. Eilige Schritte entfernten sich aus dem Raum.

Kamura und Taoh wechselten einen Blick, der von einer Mischung aus Angst und Entschlossenheit geprägt war. Der Klang des zerbrechenden Glases hatte wie ein Weckruf gewirkt; es gab kein Zurück mehr. Mit einem tiefen, synchronen Atemzug fassten sie den Entschluss, die Tür zu öffnen und dem Unbekannten, das dahinter lauerte, ins Auge zu blicken. Die kalte Klinke in Kamuras Hand fühlte sich plötzlich wie das letzte Bollwerk gegen eine Wahrheit an, die vielleicht alles verändern würde. Schließlich öffneten sie vorsichtig die Tür. Doch nichts auf der Welt hätte sie darauf vorbereiten können, was sie dort erwartete.