Sie warf einen panischen Blick auf Gidim-Zu, dessen Augen, wie in einer diabolischen Verzückung gefangen, mit unverhohlener Spannung und gebanntem Interesse auf den Kopfzeichner gerichtet waren. Die Dunkelheit pulsierte im Raum, und das Licht selbst flüsterte von den tiefen Mysterien, die sich entfalteten. Gidim-Zu's Blick, gleich einer morbid faszinierenden Vision, enthüllte keine Spur von Verwunderung, sondern erwartete voller Ungeduld das Unvermeidliche, als sei es ein längst prophezeiter Moment in den Annalen der düsteren Schicksale.
»Es scheint, dass eine Schar der Zu-Kur, bewandert in der Kunst der Kymatik, sich an der Rettung beteiligt hatte. Eine kurze Uneinigkeit entbrannte, ob man den Knaben lediglich in die Stadt geleiten sollte. Möglicherweise war er gebissen worden.«
Zelias Erinnerungen erwachten zu neuem Leben, und das Chaos in ihr entflammte von Neuem. Die Wahlmöglichkeiten waren dürftig. Es handelte sich immerhin um ein Kind. Keine Bisswunden waren sichtbar, und doch lastete eine unsichtbare Bedrohung. Sie hätte es nicht ertragen können, ihn zurückzulassen, damit er demselben grausamen Schicksal wie Atlan anheimfiel? Allein gelassen, einsam und einem schleichenden Tode preisgegeben? Die Vorstellung allein ließ ihre Seele erzittern. Nein, das kam nicht infrage. So hatte sie kurzerhand einen der Zu-Kur außer Gefecht gesetzt, eine Fähigkeit, die ihr regelmäßig Aufträge für die Scions sicherte. Die Erinnerung an das blutige Spektakel dieser Tat ließ ihre Hände zittern.
»Nun ja, es scheint so, als wenn einer der Zu-Kur daraufhin zurückgelassen wurde. Und in einer tragischen Ironie des Schicksals selbst gebissen worden ist, unfähig, sich zu verteidigen ... Obsidian!«
Ein kollektiver Atemzug wurde unter den Anwesenden hörbar angehalten. Obsidian, weithin bekannt dafür, die kymatischen Kräfte zu neutralisieren, war ein seltenes Gut, geschützt von der Regierung, um die Macht ihrer Kymisten, insbesondere der Auranen, zu sichern.
Ferner erforderte der Kampf mit Obsidian gegen einen ausgebildeten Kymisten eine spezielle Ausbildung in der Technik, die genauen Energiemeridiane eines Menschen zu kennen. Vielleicht konnte man mit etwas Glück einem Kymisten seine Kräfte nehmen, solange der Stein ihn berührte, doch um einen Menschen vollends zu lähmen, mussten die Energiekanäle vollständig blockiert werden.
Plötzlich tat sich der Boden unter Zelia auf. Ihre Gedanken wirbelten herum, als würden sie den Nebel vor ihr selbst in Bewegung setzen und ihre Identität enthüllen. Er war gebissen worden? Ihretwegen? Und auch wenn es nicht das erste Leben war, das sie genommen hatte – diesmalig gab es keinen höheren Zweck, zu dem sie sich berufen fühlen konnte. In ihrer Unfähigkeit, den Jungen dort zurückzulassen, hatte sie unvernünftig gehandelt und ein Leben gegen ein anderes eingetauscht. Die Dunkelheit ihres Gewissens kroch wie ein unheimlicher Schatten durch ihre Gedanken.
Ohne Einverständnis. Ohne Recht. Und mit dem Risiko, beide Leben zu verlieren – schlimmer noch, die ganze Stadt in Gefahr zu bringen, durch diese Irrationalität. Hätte Eladan sie nicht tatkräftig unterstützt, mit tiefem Verständnis ihres geteilten Schmerzes – sie hätte wohl im Zuge ihres erwachten Zweifels sofort gestanden. Doch die nächste Realisation riss ihr den Boden unter den Füßen weg und stürzte sie hinab in die tiefste Finsternis:
Hatte Eladan den Zu-Kur nicht bis an die Tore der Stadt getragen? Direkt an den Toren wurden keine Mutanten gesichtet. Lediglich diese chaotische Evakuierung. Schreien, Schubsen, Greifen, Ziehen – jeder bahnte sich gewaltsam seinen Weg. Konnte es sein – war dieser Biss entstanden durch – ihre Gedanken rissen in der Dunkelheit ab, jäh unterbrochen von der seichten Stimme des Kopfzeichners:
»Besagter Zu-Kur ließ seinen Sohn zurück. Ging zum Sterben in die Höhlen. Und dieser Sohn befand sich heute auf dem Markt, suchend, ausfragend nach der Mörderin seines Vaters: Eine Hexe mit Haaren wie Feuer.«
Gidim-Zus Blick haftete plötzlich auf Zelias Nebelgestalt. Unlesbar. Emotionslos. Verständnislos. Die Finsternis schien sich um sie zu schließen, als würde sie von der Dunkelheit selbst durchschaut werden. Sollte sie gestehen? Ihren Fehler wiedergutmachen? Dass sie die Stadt gefährdet hatte, um ihr Herz vor weiterem Schaden zu bewahren? Doch es war mehr als dies. Es war ein Kind. Allein und verlassen. Kein Sohn des Blauen Teufels. Kein Monster. Ein armer Junge. Sie hatte ihn selbst gesehen. Ihre Entscheidung konnte doch nicht falsch sein ...
»Wie steht unser Schäfer damit in Verbindung?« schnitt die Stimme des Zwerges durch den Raum, als ob sie die Dunkelheit selbst zu zerschneiden vermochte.
»Der Schläfer stand scheinbar nah mit besagter Frau in Verbindung. Doch mehr konnte ich von den Lippen nicht ablesen«, entgegnete der Zeuge, seine Stimme eine kalte Welle im stillen Meer der Versammlung.
»Verdächtig ...«, murmelte die Spielerin. »Wir suchen also eine Dame mit rotem Haar, ausgebildet, mit Obsidian zu kämpfen und in Verbindung zu unserem Schläfer. Was geht da vor? Ist das wieder eine deiner Schattenoperationen, Gidim-Zu?« fragte sie unverhohlen, als würde sie einen alten Freund zurechtweisen. Gidim-Zus Augen lagen kalt auf ihr, gleichsam zwei gleißende Sterne in einer leeren, finsteren Galaxie.
»Wäre mir eine solche Mission bekannt, wo läge dann der Sinn dieses Treffens?« wischte die Stimme Gidim-Zus diese leichte Anspielung beiseite. »Dennoch, die Zufälligen zeichnen Muster, die wir nicht ignorieren können. Wir können von Glück reden, dass wir alsdann hoffentlich einen kleinen zeitlichen Vorsprung haben – denn auch die Auranen könnten bald auf den jungen Mann aufmerksam werden.
Ich schlage eine Kombination der Pläne vor: Wir nutzen die Idee des Schattens, Fehlinformationen über Sichtungen des Jungen mit weißem und der Frau mit rotem Haar zu streuen. Dafür nutzen wir das Netzwerk des Webers. Jeder Hauch, jedes Flüstern in den Schatten wird zu unserer Waffe.
In der Zwischenzeit wird der Schatten selbst auf die Suche nach der Frau gehen. Der Zwerg bereitet einen Unterschlupf vor, einen sicheren Ort, verborgen in den Tiefen der Stadt.
Der Turm durchforstet die alten Schriften, nach Informationen, was es mit diesem Jungen auf sich haben könnte. Jeder Satz, jeder Hinweis könnte der Schlüssel sein.
Wenn die Sibbitti ihn so dringend haben wollen, könnte der Junge der Schlüssel zu Antworten sein, die wir seit Anbeginn der Scions suchen: Wer sind die Sibbitti, wieso gibt es sie seit Anbeginn der Stadt, wer ist der Blaue Teufel und woher kommen die Mutanten? Finde jeden Anhaltspunkt darüber, den wir mit dem Jungen in Verbindung setzen könnten!
Die Spielerin wird als Köder fungieren. Sorge für Sichtungen der Frau mit rotem Haar auf dem Markt. Lege eine Fährte. Bringe uns den Sohn, dem es nach Rache für seinen Vater dürstet, bevor die Auranen ihn finden. Die Klinge kommt mit mir!
Wer auch immer den Jungen aufspürt, kontaktiert mich unmittelbar mittels Kristall-Resonator. Ich dulde keine eigenmächtigen Handlungen! Wir wissen nicht, welche Kymatik sich womöglich hinter seinen Augen verbirgt und euer Wohl ist mir ebenso heilig wie das Wohl der Stadt!
Das war's. Das Licht sei euer Begleiter!«
Ein Schauer durchzog Zelia bis in die Knochen. Dies war der letzte Tropfen, der sie in Anbetracht all der Lasten an den Rand des Wahnsinns und der Paranoia trieb. Sie wünschte, sie hätte sich verhört. Sie kannte die Wahrheit. Doch niemand außer ihr konnte sie kennen. Das Wissen lastete schwer auf ihr, wie eine unsichtbare Kette aus Dunkelheit und Schuld.
Der nackte Junge war völlig in ihren Mantel gehüllt, als sie ihn im Chaos in die Stadt schmuggelte. Sie selbst hatte seine Augenfarbe erst zu Gesicht bekommen, als er bei ihnen zu Hause erwachte. Niemand konnte um seine Augen wissen, um die geheimnisvolle Kymatik, die in diesem jungen Leib wirkte, wie sie es selbst noch nie zuvor gehört hatte. Eine Macht, die sie nur erahnen konnte.
»Augen?«, entgegnete der Zwerg und hielt inne, während die Mitglieder der Versammlung sich bereits anschickten, ihre Plätze zu räumen. »Von den Augen war bisher nicht die Rede gewesen.«
Für Zelia änderte sich die Atmosphäre im Raum schlagartig. Gidim-Zus Blick haftete unverwandt auf ihr. Zögernd. Abwägend?
»Ganz gewiss«, antwortete er zuerst zögerlich, dann erklang seine Stimme jedoch sofort wieder in gewohnter Sicherheit: »Laut einiger Zeugen soll er der Kymatik fähig sein. Vielleicht ist auch diese Tatsache der Grund, weshalb er so dringend gesucht wird.«
Für einen Moment gaben sich der Zwerg und Gidim-Zu ein Blickduell. Zelias Gedanken waren schon jetzt vollends am Rasen: Konnte es wahr sein? War sie nun gänzlich paranoid? Noch hatte sie die anderen Mitglieder an ihrer Seite. Noch konnte sie die Wahrheit sprechen. Doch konnte sie ihnen trauen? Vielleicht würde sich alles aufklären. Vielleicht hatte ja der Zeuge Informationen über den Jungen erhascht? Aber eine so essenzielle Information zu vergessen, stand ihrem Anführer nicht zu Gesicht. Kurz wanderte ihr Blick vom Zwerg zu Gidim-Zu.
»Welches Chakra?«, fragte der Zwerg prompt.
Einen Moment wanderte der Blick zu Zelia, als würde er sie prüfen. Seine Augen durchdrangen sie wie kalte, unerbittliche Klingen. Dann entgegnete Gidim-Zu: »Gerüchten zufolge, seiner Augenfarbe zu urteilen wohl: Herz.«
Herz ... Klang es in Zelia nach. Grün ... es war offensichtlich. Das Gefühl der Erkenntnis zog wie eine eiskalte Flut durch ihre Gedanken. Sie atmete tief ein. Entspannte ihren Körper, ihren Geist. Sie wusste, was zu tun war. Sie musste ihrer Sinne Herr werden. Jetzt. Wie sie es gelernt hatte. Genau diese Fähigkeit gehörte eigentlich zu ihren stärksten. Doch allzumal ... ohne Eladan – STOPP! Ihre Gedanken waren wie ein Sturm aus Dunkelheit, den sie mit einem entschlossenen Willen zum Schweigen brachte.
Sie ließ den Gedanken abreißen. Leere zog ein. Die Sinne schärften sich. Da war sie wieder. Völlig im Hier und Jetzt. Sie musste die richtige Entscheidung treffen. Jetzt oder nie. Langsam glitt ihre Hand unter ihren schweren Mantel. Obsidian. Sie, wie immer, ihre Nadeln in der Tasche. Spitz, lang, unauffällig. Und doch, wenn sie mit ihrem Nadelwurf die Meridiane traf, so war der Kampf meist beendet, bevor er begonnen hatte. Sobald sie völlig im Hier und Jetzt ankam, umklammerte sie mit ihren Fingern drei Nadeln.
Sie atmete noch einmal tief ein. Gidim-Zu schaute nicht her – sein Blick noch auf den Zwerg gerichtet. Dieser war mit der Antwort zufrieden. Er schickte sich bereits an, seinen Platz zu räumen. Finde die Schwachpunkte. Gidim-Zu musste Sakralchakra oder Stirnchakra-Nutzer sein. Dessen war sie sich sicher. Sie visierte die zwei Punkte an. Sie würde ihn nur lähmen. Dann ausfragen. Reine Vorsichtsmaßnahme. Wenn sie sich irrte, würde Gidim-Zu – wie sie ihn kannte – vermutlich noch stolz auf ihr vorsichtiges Handeln sein. Sein Blick wanderte wie in Zeitlupe zu ihr. Jetzt oder nie –
Gerade, als sie in einer flüssigen Bewegung aus dem Handgelenk werfen wollte, traf sie Gidim-Zus Blick mit einer Heftigkeit, dass sie beinahe ihren meditativen Zustand verlor. Seine Augen leuchteten auf. Heller als bisher. Heller, als sie sie je gesehen hatte. Der Nebel um sie verdichtete sich. Kurz bevor die Nadeln ihre Hand verließen, versagte ihr Körper völlig – der Nebel hatte seine Dichte binnen Sekunden so weit erhöht, dass es sich anfühlte, als würde sie unter Wasser werfen wollen. Dann wurde er noch dichter. Atmen wurde unmöglich.
Sie begann zu keuchen, sich zu winden, als hätte sie mit ihrem Versuch zu atmen, Wasser verschluckt. Sie schrie nach Hilfe, doch wie zuvor bereits geschehen, schluckte der Nebel ihre Worte. Was eben noch wie ein liebevoller Schutz gewirkt hatte, als sie weinte, war indes ein bewegliches Gefängnis, das ihren Körper wieder in eine aufrechte, normale Position zwang. Das erste Mitglied hatte bereits den Raum verlassen. »Hilfe!«, schrie sie, immer noch unfähig zu atmen – noch mehr flüssigen Dampf einatmend. Niemand bemerkte sie.
Der Zwerg unterhielt sich mit dem Turm. Der Schatten war bereits wieder in ein Streitgespräch mit dem Weber vertieft. Nun verließ die Spielerin den Raum. Schwindel breitete sich aus. Jede Zelle ihres Körpers schrie nach Sauerstoff. Würde er sie töten? War sie noch von Wert? Es würde sicher nicht schwer sein, ihr Heim zu finden, sobald der Nebel sich lichtete und Gidim-Zu ihr wahres Gesicht sah. Schwarze Flecken begannen sich in ihrer Optik abzuzeichnen. Der Turm verließ den Raum. Die wahrscheinlich einzige Person im Raum, die es mit Gidim-Zu hätte aufnehmen können.
Die verbleibenden Mitglieder waren dem Informationsdienst zuzuordnen. Sie selbst die letzte Kriegerin im Raum. Ihre Lungen zogen sich zusammen, ächzend nach Luft, während der Kopf pulsierte und das Gefühl von tausenden Nadeln sich über den ganzen Körper zog, der kurz darauf langsam taub wurde. Ihr Bewusstsein wandte sich mit Grausen ab. Dunkelheit überkam sie und kurz bevor sie völlig entgleiste, war da wieder dieses Bild: Taoh. Weinend. Allein. Umgeben von Dunkelheit, die ihn schließlich verzerrte. NEIN! Es durfte nicht passieren. Nicht so! Nicht hier!
Mit einem letzten Aufbäumen ihres Willens konzentrierte sie sich auf die Nadeln in ihrer Hand. Ein schwacher, verzweifelter Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten. Ihre Finger, taub und schwer, gaben dem Druck nach und die Nadeln glitten aus ihrem Griff. In einem letzten Akt des Widerstands, bevor die Dunkelheit sie endgültig verschlang, sandte sie ein stummes Gebet an die Götter der Kymatik, dass sie Gidim-Zus wahre Absichten enthüllen würden.
Doch die Dunkelheit war gnadenlos. Ihre Gedanken verschwammen, ihre Sinne erloschen. Der Nebel um sie herum pulsierte bedrohlich, als hätte er ein eigenes, bösartiges Leben. Und dann, mit einem letzten, schmerzhaften Keuchen, fiel sie in die Tiefe, endlose Finsternis.