»Oh Lichtbringer, der Du durch die Finsternis weisest, schütze uns auf unseren Wegen durch die ewige Nacht. Vor dem Blauen Teufel bewahre uns, führe uns fern von seiner Macht.«

Diese Worte, durchdrungen von Sorge und Ehrfurcht, ließen eine Stunde zuvor die Herzen der Anwesenden schneller schlagen. Ein kalter Luftzug durchzog den Raum, als hätte die Anrufung des Lichtbringers eine Bresche in die Schattenwelt geschlagen. Die Luft, geladen durch die kymatischen Apparaturen, knisterte. Die Lage musste ernst sein. Zelia erinnerte sich, dass Gidim-Zu noch nie mit einem Gebet begonnen hatte, was der Situation eine düstere Schwere verlieh.

Gespannt blickte sie umher. Eine eigentümliche Magie erfüllte den Raum. Die gesprochenen Worte zeichneten Muster in den Nebel, die im flackernden Licht der Lumiflora wie feine Silberfäden glänzten – ein visueller Nachklang der Stimme. Diese tanzenden Muster wirkten wie eine vergessene Schrift, ein Gewebe aus Nebel, Licht und Klang. Gidim-Zu formte zusätzlich die Schallwellen so, dass die Stimmen der Teilnehmer wie das Flüstern des Windes klangen, es sei denn, der Anführer wollte es anders. Alles zum Schutz ihrer Identität.

Gidim-Zu Gestalt zeichnete eine imposante Silhouette in den Nebel. Seine Augen glühten in der Dunkelheit, zwei leuchtende, weiße Punkte, die geheimnisvolle Gedanken verbargen. 

»Brüder und Schwestern. Ihr habt es bereits vernommen! Ein Angriff auf die Stadttore. Mutanten vor den Toren. Viele Opfer...«, eröffnete er ohne Umschweife. 

Stille senkte sich über die Versammlung, als alle Blicke wie auf Befehl auf den leeren Platz fielen. Ein stummes Nicken begleitete die Erkenntnis ihres Verlustes.

Zelias Brust verengte sich in einem unsichtbaren Griff. Ein brennendes Gefühl in ihrer Kehle machte das Atmen schwer. Doch der allgegenwärtige Nebel, wie eine zarte Umarmung, tröstete sie in ihrer Verzweiflung. Ihr Ausbruch durfte ihre Identität nicht preisgeben!

Der Nebel verbarg ihre Trauer. Ihr war fast, als teilte er sie mit ihr. Er wurde dichter, ein Segen, denn ein leises Schluchzen entrang sich ihr, während eine Träne ihre Wange hinabrollte. In diesem dichten Schleier fand Zelia einen Moment der Ruhe, um ihre Gedanken zu ordnen.

In schweigendem Gedenken ehrte jeder Anwesende den verlorenen Gefährten. Eladan hatte mit seiner lebendigen Ausstrahlung jedem Anwesenden gezeigt, dass sie ihm jederzeit die Maske der Anonymität hätten entreißen können – wenn sie genau genug hingeschaut hätten. Kein Nebel der Welt vermochte es, seine lebensfrohe Eigenart zu verbergen. Sein Verlust hinterließ eine unerträgliche Leere, die wie eine kalte Hand ihre Herzen umklammerte.

Als Händler war er an den Zu-Kur-Märkten vor den Toren bekannt, geliebt und respektiert. Immer Freude schenkend, stets sich selbst belächelnd, doch seinem Umfeld voraus, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Seine letzten Worte brannten in ihrem Herzen. Sein Lächeln, seine leuchtenden Augen – alles war schon jetzt nur noch eine schmerzhafte Erinnerung.

Zum ersten Mal empfand sie jedoch nicht bloß Qualen. Etwas Anderes war zugegen – eine ätherische Präsenz: Seine unvergängliche Zuneigung. Seine unverfälschte Essenz. Und ... eine tiefe Dankbarkeit. Die Erkenntnis, dass Eladans Geist und Lehren weiterhin in ihren Herzen verweilten, brachte einen Hauch von Wärme in die Kälte ihres Verlustes. Es war, als hätte er ihnen ein letztes Vermächtnis hinterlassen: die Gewissheit, dass Zuneigung und Einheit selbst die finsterste Dunkelheit durchdringen können. Diese neue Erkenntnis war wie ein Funken Hoffnung, der sich tief in ihrem Inneren verankerte und sie stärkte.

Bewaffnet mit dieser neu entdeckten Macht, sammelte sie sich erneut. Kurz darauf begann der Nebel sich zu lichten, und die Gestalten der anderen Anwesenden traten wieder deutlicher hervor. Für sie war alles unverändert; die Szene, die sich zuvor abgespielt hatte, war ihnen entgangen. Das unsichtbare Band der Gemeinschaft und des Verlustes blieb jedoch fest bestehen, unsichtbar, aber unzerbrechlich.

Zelia begriff: Gidim-Zu hatte sie beschützt, den Nebel zu ihrem Schutze verdichtet. Mit einer diskreten Verbeugung in Richtung ihres Anführers, die dieser mit einer kaum wahrnehmbaren Geste erwiderte, bestätigte sich die stillschweigende Verbindung zwischen ihnen. In der Stille des Raumes lag ein unausgesprochenes Versprechen, eine Bindung, die sie alle durch diese dunklen Zeiten tragen sollte. Doch sein Blick blieb unverwandt auf sie gerichtet. Als hätte er sich soeben einen Zusammenhang erschlossen.

 

»Wir sehen uns einer Prüfung gegenüber, die unser Innerstes auf die Probe stellt«, fuhr er fort, jedes Wort bedächtig wägend, während die beiden, grellen Lichtpunkte die Anwesenden sorgsam musterten. »Was auch immer dort draußen vor sich geht. Seit der ersten Stunde Narakas wurden noch nie Mutanten an den Stadttoren gesichtet! Dies wird weitreichende Konsequenzen haben. Die Zeit läuft gegen uns. Wir werden uns erneut mit der Frage der Smaragdtafeln auseinandersetzen müssen« 

Sein Blick ging zu Zelia. Sie nickte unauffällig. Dann fuhr er fort. »Wir werden eine erneute Mission nach Albedo starten! Das Löwenblut könnte unsere letzte Hoffnung sein! Wir brauchen die Besten, der besten Zu-Kur« Der Gedanke an den Verlauf der letzten Mission, lies Zelia erneut einen Klumpen im Hals entstehen, der ihr das Atmen erschwerte. Ihre Gedanken gingen zu Atlan. Die Schuld - das Gewissen - es erdrückte sie. Doch sie wusste. Es musste sein.  Zelia hob ihre Hand. Die Augen gingen auf sie. 

»Ich melde mich freiwillig!«, rief sie aus. Gidim-Zu schüttelte den Kopf - beinahe bedauerlich. 

»Wie immer, wissen wir deinen tollkühnen Mut über alle Maße zu schätzen. Sogleich deine Fähigkeiten wohl mit Abstand die nützlichsten sein könnten - wir haben bereits ein unersetzbares Mitglied unserer Gemeinschaft verloren, welches das Zen beherrschte. Es ist nicht mehr sicher zu sagen, ob es überhaupt schützt«

Der Klos in Zelias Hals wurde größer. Sie schluckte schwer, doch er ließ sich nicht lösen. Zelia demonstrierte: »Keiner außer mir kennt-«

»Dir ist eine andere Aufgabe zugedacht, Klinge«, mahnte Gidim-Zu; mit einer Stimme, die den Nebel in wilden Wirbeln durch den Raum fliegen ließ. Zelia neigte den Kopf. Er wandte sich wieder den anderen zu.

»Dieses Mal werden wir nicht schleichen! Wir werden frontal angreifen! Mir liegen Informationen vor, der Schläfer könnte in seinem letzten Akt auf Erden die Passage ein wenig frei gemacht haben! Wir werden den Kartografen Nanazu damit beauftragen. Keiner ist jemals weiter vorgedrungen. Sollte es möglich sein, die Höhlen zu betreten, so würde ich vorschlagen, noch vor dem nächsten Fest der Frequenzen die Expedition zuzuschlagen« Die Gruppe war sich einig. Still nickend stimmten sie zu. Dann sprach ihr Anführer weiter.

»Noch etwas: Die Elite sucht nach einem Jüngling mit schneeweißem Haar. Dies ist keine zufällige Laune. Es deutet auf eine bevorstehende Wende hin – eine Wende, die entweder zu unserem Vorteil gereichen oder unser Verderben bedeuten könnte« Seine Worte hallten nach, zeichnete neue fadendünne Muster in den Nebel, während zustimmendes Nicken durch die Runde ging.

Zelia stockte der Atem. Der Junge? Ihr Herz begann heftiger zu schlagen, als bereitete sich ihr Leib darauf vor, auf der Stelle nach Hause zu eilen – um ihre Familie zu beschützen. 

Aus dem Augenwinkel erhaschte sie einen Blick auf die schmale, nebelhafte Gestalt des Zeugen, der sich ihr zugewandt hatte. Diese oftmals stille Präsenz, meist zurückhaltend in ihren Äußerungen, stellte eine tragende Säule ihrer Gemeinschaft dar: 

Die außergewöhnliche Gabe dieser Person, jedwedes Bild, das einmal ihren Blicken begegnet war, in ihrem Gedächtnis zu speichern und zu jeder Zeit abrufen zu können, war von unermesslichem Wert. Doch in diesem Augenblick, in dem sich die Aufmerksamkeit dieser eigentümlichen Entität auf sie selbst richtete, durchfuhr Zelia ein Schaudern. Die Intensität dieses Blickes, die Tiefe des Wissens, das darin lauern könnte, ließ sie frösteln.

Der Zwerg, dessen zierliche Figur im dichten Nebel nahezu verschwand, vollführte eine winkende Bewegung, ein Versuch, die Aufmerksamkeit der übrigen Anwesenden auf sich zu ziehen.

»Warum ausgerechnet ein Junge mit weißem Haar? Warum misst die Elite ihm solch eine Bedeutung bei?«, hinterfragte er. Seine Stimme, unerwartet deutlich und bestimmt für seine geringe Größe, durchbrach die drückende Stille des Raumes – ein scharfer Kontrast zu seiner ansonsten so diskreten Präsenz. 

Noch bevor Gidim-Zu eine Erklärung abgeben konnte, schaltete sich der Turm, ein, dessen imposante Statur einen markanten Gegensatz darstellte: »Es kursieren Gerüchte. Gemäß den alten Schriften soll der Blaue Teufel selbst weißes Haar besessen haben. Sollten die Legenden der Wahrheit entsprechen, ist es wahrscheinlich, dass die Sibbitti versuchen, ihn auszulöschen« Seine Worte hallten nach, als ob sie tief aus den verborgenen Archiven einer längst vergangenen Ära kämen, und ließen eine unheimliche Stille zurück.

Ein frostiger Schauder erfasste Zelia bei diesen Worten. Diese gnadenlose Art und Weise, Recht und Ordnung in einer ansonsten hoffnungslosen Welt zu wahren, hatte sie letztlich in die Reihen dieser geheimen Rebellion getrieben. Es war immerhin ein Kind, um das es hier ging! Die Vorstellung, dass unschuldiges Leben für die Ziele der Sibbitti geopfert werden sollten, erfüllte sie mit tiefem Unbehagen.

Gidim-Zu ergänzte: 

»Es scheint, als hätten die Sibbitti ein ausgeprägtes Interesse an dem Jungen. Sie behaupten, er wäre Zeuge des Vorfalls an den Stadttoren. Vermutlich der Einzige. Auch in diesem Fall wäre sein Auffinden unabdingbar, denn wie ich hörte, beginnen bereits jetzt die Gerüchte, dass wir dafür verantwortlich wären« Ein grimmiger Seufzer entfloh dem Turm. Nach einer kurzen Pause, zögernd, die Information weiterzugeben, führte er fort:

»Sie haben Tokat entsandt. Die Situation ist äußerst prekär« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern.

Ein Raunen ging durch die Versammlung, doch es war der Wellenschmied, der auffällig nervös wirkte. Seine Hände fummelten unaufhörlich an den Rändern seiner Kapuze, ein Verhalten, das Zelia als untypisch auffiel. Der sonst so Gesprächige, Kymatik-Bewanderte, war vermutlich hinter der ganzen Apparatur verantwortlich, die die Magie dieses Ortes ausmachte und ihre Sicherheit gewährleistete. Da er jedoch selbst – vermutlich – keine Kymatik anwenden konnte, kompensierte er sein Defizit durch das Studium ebenjener – und mit dem unermesslichen Verlangen, darüber zu sprechen. Seine Nervosität verriet die tief sitzende Angst vor den unbekannten Mächten, die sie umgaben.

»Und wie gedenken wir, diesen Jungen zu finden, bevor die Elite es tut?« Die Stimme gehörte Der Sichel, einer schmalen, geschmeidigen Gestalt, deren Bewegungen an die Eleganz einer Raubkatze erinnerten. »Sollten wir nicht all unsere Ressourcen darauf verwenden, ihn zu schützen?«

Zelia spürte, wie die Worte der Sichel ein Widerhall in ihrem Inneren auslösten, ein Gefühl von Dringlichkeit und Bestimmtheit. Sie wusste, dass die Zeit gegen sie arbeitete und jeder Moment zählte. Doch war es nicht nur der Junge, der in Gefahr schwebte; die gesamte Unterwelt von Naraka stand auf dem Spiel. Das Schicksal hatte sie in diesen Moment geführt, und sie spürte, dass ihre Rolle in diesem Geschehen weit über das hinausging, was sie bisher verstanden hatte. Ihr Herz schlug schneller, die Verantwortung lastete schwer auf ihren Schultern.

Doch konnte sie in dieser Runde ihr Geheimnis offenbaren, ohne ihre Identität preiszugeben? Konnte sie allen vertrauen? Falls nicht, wäre sie sicher nicht schnell genug zurück, um eine Katastrophe zu vermeiden. Sie musste Zeit gewinnen, musste strategisch vorgehen, um sowohl den Jungen als auch ihre eigene Identität zu schützen.

»Wir müssen den Jungen finden, bevor die Ruhezeit endet«, erklärte Gidim-Zu mit einer typischen Entschlossenheit. »Wir können die Netzwerke der Zu-Kur nutzen. Bei der Menge an Zu-Kur, die im Zuge der Evakuierung die Stadttore durchquerten, muss einer diesen Jungen gesehen haben« Seine Worte klangen wie ein Befehl, der die Versammlung in eine fieberhafte Aktivität stürzte.

Sobald sie diesen Satz gehört hatte, überkam Zelia ein flaues Gefühl im Magen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Wenn die Scions diesen Weg einschlagen, so waren die Auranen schon längst drauf und dran, die Zu-Kur auszulesen und in ihren Erinnerungen zu wühlen, bis, tief im Unterbewusstsein eines Unglücklichen, das Bild zu finden sein musste: 

Sie, den Jungen in den Armen, fliehend durch die tosende Menge. Auch wenn er fast völlig von ihrem Mantel umhüllt war, das weiße Haar konnte sich nicht ganz verbergen. Dieses verflixte weiße Haar, ein unheilvolles Merkmal, das ihnen stets Gefahr brachte.

Wie auf einen Befehl hin neigte der Zeuge leicht den Kopf. Er begann, flüsternd eine komplexe Abfolge von Bildern zu beschreiben, die er in den vergangenen Tagen eingefangen hatte. Da er ebenfalls die Kunst des Lippenlesens zur Perfektion getrieben hatte, war es ihm möglich, vergangene Gespräche wiederzugeben. Sogar solche, die er lediglich in der Peripherie wahrgenommen hatte. Seine Fähigkeiten waren sowohl ein Segen als auch ein Fluch, ein Werkzeug der Aufklärung und der Angst zugleich.

Voll Schauder und Wunder musterte Zelia den Zeugen: Nicht jede Macht war zwangsläufig mit der Kymatik verbunden. Und doch überkam sie ein Schauer bei dem Gedanken, dass ihr Verbündeter Informationen über den Verbleib des Jungen erhaschen konnte und sie somit zu einem Ziel ihrer eigenen Mission werden könnte. Die Ungewissheit, die sich in ihrem Inneren ausbreitete, war wie ein kalter Hauch des Todes.

Sie musste handeln. In gewohnt fester Stimme eröffnete sie: 

»Die Auranen haben sicher seit der ersten Sekunde diesen Lösungsansatz verfolgt. Auch wenn unser Zeuge unsere mächtigste Waffe in diesem Rennen auf Zeit darstellt, so haben die Auranen wesentlich mehr Ressourcen und Quellen. Wenn wir uns auf diese Art der Informationsbeschaffung verlassen, sind wir massiv im Nachteil!« Ihre Worte klangen wie ein Weckruf, der die Versammlung in einer neuen Dringlichkeit erfasste.

Die anderen Mitglieder nickten zustimmend. »Wir müssen über Alternativen nachdenken, insbesondere, da der Zeuge jedes seiner Bilder einzeln durchsuchen muss. Es kann Tage bis Wochen dauern, falls wir überhaupt etwas finden. Wir sollten eine andere Herangehensweise in Betracht ziehen!«, fügte sie hinzu. Die Anwesenden wussten, dass die Zeit gegen sie arbeitete, und jeder Moment zählte.

Der Zeuge ließ sich absolut nicht beirren. Weiterhin zischten die Laute von seinen Lippen, Orte, Gesichter, Situationen aufzählend, den Raum in eine merkwürdige Energie tauchend. Die Spannung in der Luft war greifbar, eine stumme Erwartung, die die Anwesenden in ihren Bann zog.

»Die Klinge hat recht«, stimmte der Turm bei. »Was, wenn wir die Legenden zu unserem Vorteil nutzen?«, schlug er vor. »Die alten Geschichten über den Blauen Teufel könnten uns einen psychologischen Vorteil verschaffen. Wir unterstützen die Gerüchte, er sei der Sohn des Blauen Teufels. Jedoch ausschließlich unter den Zu-Kur.

Diese haben den Glauben an die Führung Narakas schließlich mit ihrer Verdammung ins Exil bereits verloren. Sie würden in einem solchen Fall eher zu uns kommen. Nach allem, was sie da draußen in den Höhlen erlebt haben, haben die meisten von ihnen durch die tiefen Traumata einen starken Hang zu Mythen und Aberglaube. Sie benötigen solche Geschichten, um Erklärungen für all das Grauen da draußen zu finden. Einfache Erklärungsmodelle für komplexe Sachverhalte« Ebendiese kalte Abgeklärtheit hatte Zelia stets Abstand vom Turm wahren lassen.

»Ich schlage vor, wir schüren die Angst in ihnen. Machen sie alle zu unseren Spionen. Spannen ein Netz und schnappen zu, sobald einer Informationen bietet. Immerhin werden die meisten Zu-Kur wohl kaum ehrenamtlich handeln. Wir müssen sie zur Zusammenarbeit zwingen.« Der Plan des Turms klang kühn, doch die Gefahren, die er mit sich brachte, waren für Zelia offensichtlich.

»Jede unserer Bewegungen muss sorgfältig geplant werden«, warnte sie. »Dein Plan ist durchdacht, doch birgt einige Risiken. Es ist letzten Endes eine Täuschung mit ungeahnten Konsequenzen. Unser Ziel wäre mit etwas Glück temporär erreicht, doch die Sicherheit des Jungen auf lange Sicht nicht mehr zu gewährleisten, wenn alle Welt ihn für einen Dämonen hält. Die Gassen von Naraka sind verwinkelt und voller Augen. Im schlimmsten Fall streuen die Gerüchte noch an Orte, die besser nicht von einem solchen Kind erfahren sollten.«

Jeder der Anwesenden verstand diese Anspielung. Ein stummes Zugeständnis überkam den Raum. Die Kultisten in und um Naraka herum waren bekannt für ihre extremistischen Ansichten und wurden mit dem Verschwinden von Kindern in Zusammenhang gebracht. Die Gefahr, die von ihnen ausging, war allgegenwärtig und bedrohte jedes Leben in der Stadt.

Der Zeuge flüsterte unterdessen weiterhin kryptische Laute, wild gestikulierend. Eine unheimliche Atmosphäre umgab ihn, wie er dort saß, gleich einem dunklen Mantra, die Entitäten der Zwischenwelt, Sumeru, rufend. Für einen Moment beobachtete Zelia diesen Eigenartigen. Heilfroh, dass dieser seine Dienste ihnen und nicht ihren Feinden darbot, und dennoch heimlich wünschend, seine Fähigkeit würde heute zu keinem Ergebnis kommen. Die Ungewissheit, die in der Luft lag, war erdrückend.

»Die Zeit arbeitet gegen uns, und doch dürfen wir nicht überstürzt handeln«, murmelte Zelia, mehr zu sich selbst, als sie die Worte des Zwerges auf sich wirken ließ. Sie wusste, dass jeder Schritt, den sie unternahm, wohlüberlegt sein musste, um nicht nur den Jungen, sondern auch die fragile Ordnung von Naraka zu schützen. In ihrem Herzen wuchs die Erkenntnis, dass diese Mission mehr als eine Rettungsaktion war; es war ein Kampf um die Seele ihrer Stadt. Die Verantwortung, die auf ihr lastete, war immens, und die Dunkelheit, die sie umgab, schien ihre Entschlossenheit nur zu stärken.

Zu gern hätte sie sofort alles offenbart. Es war eine Qual, diesen Prozess in Gang zu setzen, wissend, dass sie am Ende dieser Nachforschungen vor sich selbst und ihren Handlungen stehen würde. Ihre Identität würde auffliegen. Alles, was sie unter ihrem Decknamen je getan, gesagt hatte. Nicht auf jede ihrer Operationen war sie stolz. Und wer weiß, über welche Ecken sie bereits einem Mitglied Leid angetan hatte, unwissend und dennoch schuldig. Nein. Sie musste zuerst mit Gidim-Zu alleine sprechen. Im Vertrauen. Nicht nur das Schicksal des Jungen stand auf dem Spiel. Der gesamte Rest ihrer Familie war in Gefahr, wenn sich die geballte Konzentration dieses Krieges der Schatten auf ihr Heim richten würde. Die Wahrheit war ein zweischneidiges Schwert, und sie musste es mit Bedacht führen.

Als die Gruppe ihre Pläne weiterdiskutierte, löste sich kaum merklich eine Präsenz aus dem Nebel.

Der Schatten, wie er treffend genannt wurde, trat so leise und unauffällig aus dem dichten Schleier hervor, dass selbst die wachsamen Augen der Anwesenden es erst bemerkten, als er bereits in ihrer Mitte stand. Die Nebelhülle verneigte sich kurz, eine Geste der tiefen Ehrerbietung, die seine Präsenz unterstrich.

»Meine geehrten Brüder und Schwestern. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Auranen getäuscht werden können«, begann er mit einer Stimme, die so leise war, dass sie beinahe mit dem Wind verweht wurde. »Ihre Methoden sind raffiniert, ihre Augen reichen weit. Doch wir«, er machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick über die Silhouetten der Anwesenden schweifen, »wir haben etwas, das sie nicht besitzen – die Kraft des Ungewissen.« Seine Worte schienen wie Schatten durch den Raum zu gleiten, eine Erinnerung an die tiefsten Geheimnisse der Dunkelheit.

Zelia nickte anerkennend. Der Schatten hatte einen Punkt getroffen, der in der Hitze der Diskussion vergessen worden war. Ihre Feinde mochten mächtig sein, doch die Fähigkeit, Köder zu verteilen, könnte sich als ihr bester Vorteil offenbaren. Die Unsicherheit, die sie schaffen konnten, war eine Waffe, die sie meisterhaft zu führen wussten.

»Und wie schlägst du vor, nutzen wir diesen Vorteil, Schatten?«, fragte nun der Weber, nicht mehr als eine rundliche Nebelwolke, in einem hämischen Ton. »Du möchtest dich dieser Angelegenheit wohl allein stellen?« Ein kurzer Seufzer entkam Zelia unbewusst. Dieses Schauspiel zeichnete sich nicht zum ersten Mal in diesem Raum ab.

»Deine Webkunst ist hier nicht vonnöten. Sie birgt, wie eigentlich immer, ebendas Selbe Risiko der Fremdsteuerung, wie der Machtapparat der Sibbitti, welchen ich soeben benannt habe. Ich beschaffe meine Informationen stets auf meine Art und Weise: selbst. Weshalb meinen Informationen stets zu trauen ist. Doch dein Netzwerk, soweit es auch reichen mag, unterscheidet nicht Information und Unwahrheit. Gerüchte scheuen das Licht der Wahrheit. Doch im Schutze des Schattens zeigt die Menschheit stets ihr wahres Gesicht.« Die Worte des Schattens waren wie ein sanfter, aber bestimmter Hieb, der die Unsicherheiten der Anwesenden durchdrang.

Der Weber, dessen Form im Nebel indes klarere Konturen annahm, reagierte auf die Herausforderung des Schattens mit einem tiefen, resonierenden Lachen, das den Raum mit einer merkwürdigen Energie erfüllte und Wellen im Nebel schlug. »Ah, Schatten, immer so absolut in deinem Glauben an die Reinheit der Dunkelheit. Doch vergisst du, dass der dunkelste Schatten nicht auf die Präsenz von Licht hinweist, sondern auf seine Abwesenheit.« Seine Stimme trug die Weisheit vieler Jahre in sich, und jeder Satz war eine Herausforderung an die Überzeugungen des Schattens.

Der Weber formte seine neblige Gestalt zu einem Bild, das an einen alten, ehrwürdigen Lehrer erinnerte. »Schatten, du unterschätzt die Macht der Webkunst. Ja, sie fängt sowohl Wahrheit als auch Lüge. Aber genau darin liegt ihre Stärke. Die Kunst besteht nicht darin, nur reine Wahrheiten zu sammeln, sondern darin, aus dem Gewebe der Realität Muster zu erkennen. Muster, die uns die Wahrheit hinter der Fassade enthüllen.« Seine Worte waren wie ein sanfter Fluss, der die Realität selbst formte und die Geheimnisse des Universums entblößte.

»Ein interessanter Punkt«, erwiderte der Schatten nachdenklich. »Doch wie kannst du sicher sein, dass deine Interpretation dieser Muster nicht selbst eine Fassade ist, ein Trugbild, erschaffen von deinem eigenen Wunschdenken oder den Lügen, die dein Netz durchdrungen haben?« Seine Worte waren eine Herausforderung, eine Einladung, die Wahrheit in der Dunkelheit zu suchen.

»Das ist die ewige Herausforderung«, gab der Weber zu. »Die Kunst liegt in der Unterscheidung, in der Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Meine Webkunst ist nicht einfach ein Sammeln von Informationen. Sie ist Analyse, Interpretation und vor allem Verständnis der menschlichen Natur. Und ist es nicht auch deine Aufgabe, Schatten, das Licht hinter dem Schein zu erkennen, der dir erst die Existenz verleiht? Wie unterscheidet sich deine Dunkelheit so grundlegend von meinem Netz?«

»Das genügt!«, unterbrach Gidim-Zu dieses Spektakel der Egos. »Ihr werdet beide tun, was ihr am besten könnt: Euer Bestes geben für den Zweck und die Sache! Der Tag eurer bedingungslosen Kooperation wäre vermutlich sogleich der Tag unseres totalen Sieges gegen die Verblendung und die Lügen unserer Welt!«, fügte er im strengen Ton hinzu, während die Kristalle im Raum durch die kymatische Ladung mit einem Knistern ihre Spannung abgaben. Die Energie im Raum entlud sich schlagartig; neue Entschlossenheit ergriff die Anwesenden.

Beschämt glitt der Schatten mit einer Verneigung fast ebenso unauffällig auf seinen Platz zurück, wie er gekommen war. Die Nebel um ihn herum schienen sich zu verdichten, als ob sie seine Präsenz schützen und verbergen wollten.

»Habs!«, durchbrach plötzlich die flüsternde Stimme des Kopfzeichners die aufgekommene Stille. Zelias Herz setzte einen Moment aus, als sie die unerwartete Enthüllung hörte.

»Ich möchte noch einmal mein tiefstes Beileid aussprechen, für unseren verlorenen Freund, den Schläfer. Doch mir scheint es, als sei sein tragisches Schicksal unmittelbar mit dem des Jungen verwoben worden«, durchzog die Stimme des Zeugen sanft den Raum. Seine Worte waren wie ein leises Murmeln, das die Geheimnisse des Universums enthüllte.

Panik überflutete Zelia. Die Unsicherheit nagte an ihrem Verstand, und die Dunkelheit schien sich um sie zu verdichten. Wie hatte er das herausgefunden? Sie wusste wie. Aber wer? Wo? Keiner im Raum machte Anzeichen der Verwunderung darüber, woher der Kopfzeichner die Identität des Schläfers kannte. Wussten etwa alle, wer Eladan war? War auch sie längst durchschaut worden? War dies eine Falle?