Zelia griff reflexartig nach dem obsidianen Dolch an ihrer Seite, ihre Augen weiteten sich vor Entschlossenheit und Furcht. Taoh, neben ihr, schwankte unsicher, tastete in der erdrückenden Dunkelheit nach einem Fluchtweg, seine Hände zitterten unkontrolliert. Zelia musterte die Umgebung ein letztes Mal, ihre Gedanken rasten. Die Idee, in dieser undurchdringlichen Schwärze zu rennen, erschien ihr irrsinnig. Ihr Verfolger hingegen, mit seinen leuchtenden Augen, hatte einen klaren Vorteil.
Plötzlich durchbrach ein schriller Schrei die Stille, gefolgt von einer explosionsartigen Entladung. Eine Gestalt schoss aus der Dunkelheit hervor, wild und erbarmungslos, ihre Bewegungen ein Wirbelsturm aus Wut und Zerstörung. Taoh schrie auf, stolperte rückwärts und prallte hart mit dem Hinterkopf gegen die feuchte, kalte Höhlenwand.
Zelia, obwohl von Erschöpfung gezeichnet und von Schmerz durchdrungen, sprang dem Angreifer mutig entgegen. Der Zusammenprall war brutal, ein Tanz auf Messers Schneide, in dem jeder Stoß, jeder Schlag, jede Parade wie ein verzweifeltes Ringen ums Überleben wirkte. Die einzige Lichtquelle in dieser Finsternis waren die Augen ihres Angreifers, die im Kampf bedrohlich glühten.
Die Klänge des Kampfes, das Hecheln, das Aufeinandertreffen von Fleisch und Knochen füllten den engen Raum, während Taoh zusammengekauert in stummer Angst versuchte zu begreifen, was dort in der Dunkelheit vor sich ging. Zelia's Bewegungen waren geübt, aber die Erschöpfung nahm ihr die Genauigkeit, ihr Griff lockerte sich, ihre Schritte wurden schwerer.
Ihr Gegner, wild und unberechenbar, erkannte schnell seinen taktischen Vorteil. Mit einem heimtückischen Lächeln auf den Lippen schloss er vor seinen Angriffen die Augen, um Zelia jede Möglichkeit zur Verteidigung zu nehmen.
Plötzlich, mit einem schmerzhaften Stöhnen, sank sie zu Boden. Ein brutaler Hieb in die Rippen hatte sie hart getroffen, und das Ungeheuer stand triumphierend über ihr, bereit, den tödlichen Stoß zu setzen.
Da mischte sich unter das feurige Rot des Kampfes ein wesentlich stärkeres, gelbes Licht, das kraftvoll aus zwei Augenpaaren im Hintergrund erstrahlte und beinahe blendendes Licht in die enge, düstere Kammer spülte; ein gespenstisches Spiel aus Licht und Schatten, das über die Tunnelwände tanzte.
Taoh hatte kaum noch Hoffnung auf Rettung. Die letzte Stunde hatte ihn seiner gesamten Kraft beraubt, selbst das Schreien fiel ihm schwer. Panik und Hoffnungslosigkeit hatten seine Realität zermalmt, und sein Herz hämmerte wild in seiner Brust, als er das gelbe Licht erblickte.
Die Gestalt mit den mächtigen, leuchtenden Augen jedoch, zeigte keine Anzeichen, eingreifen zu wollen. Kalt und berechnend verfolgte sie das Geschehen, als wolle sie lediglich, dass alle Anwesenden das Ende dieses Kampfes bezeugen sollten. Die unglaublich kraftvollen Augen warfen Schatten, die in Kombination mit dem schwächeren roten Schimmer wie flackernde Flammen auf den Tunnelwänden tanzten.
»Ama!«, rief Taoh verzweifelt, seine Stimme ein schwaches Echo in der bedrückenden Finsternis. Er wollte ihr helfen, doch seine Beine fühlten sich wie Blei an, die Angst lähmte ihn.
Mit letzter Kraft stieß Zelia den Dolch nach oben und traf den Angreifer in die Seite. Ein wütender Schrei hallte durch die Kammer, doch es hielt ihn nicht auf. In einem brutalen Reflex trat er zu, und Zelia wurde gegen die Wand geschleudert. Blut rann ihr über das Gesicht, ihre Sicht verschwamm, doch sie kämpfte gegen den drohenden Verlust ihres Bewusstseins.
»Geh weg von ihr!«, schrie Taoh und warf sich verzweifelt auf den Angreifer. Es war ein törichter Versuch, doch er konnte nicht einfach zusehen. Der Angreifer packte ihn mühelos und warf ihn wie eine Puppe zur Seite. Taohs Körper schlug hart auf dem Boden auf, der Aufprall sandte Wellen des Schmerzes durch seinen geschundenen Körper.
»Haltet ein! Ist das nicht ein Kind?!«, hörte Taoh eine weiche Stimme aus der Dunkelheit sagen, während er sich mühevoll aufrappelte, bereit für einen weiteren verzweifelten Angriff. Dem Hall der Stimme folgend, erspähte er inmitten des Tumults, eine weitere Gestalt:
Zwei leuchtende Augenpaare, in merkwürdigen Spektralfarben – oder war es die Reflexion von Brillengläsern? Er glaubte, einen gelben Hut zu erkennen, und einen merkwürdigen Gehstock. Gegen das Licht blickend, war es schwer zu sagen. Doch eine besondere Musterung auf der Kleidung gab ihm schließlich die Gewissheit:
Dies war der Zu-Kur, den er früher am Felsen getroffen hatte.
»DU!«, schrie Taoh fassungslos, nicht wissend, ob er damit seine Rettung oder seinen Untergang geweiht hätte. Die gebündelte Aufmerksamkeit der vier Lichtpunkte warf ihn direkt ins Scheinwerferlicht dieser absurden Situation.
Der Zu-Kur, dessen Stirn anfangs in sorgenvollen, dennoch zornigen Falten lag, erkannte den Taoh ebenfalls.
»Halt!«, brüllte er, und seine Stimme hallte durch den engen Raum, einen kurzen Moment der Stille erzwingend. Seine Präsenz brachte eine Wende, da sowohl Angreifer als auch Verteidiger ihn erstaunt anblickten.
Der Zu-Kur trat vor, seine Augenbrauen zusammengezogen in einem Ausdruck tiefer Ambivalenz. »Dies ist ein Kind. Ich kenne den Burschen! Unmöglich treffen hier Feinde aufeinander. Haltet ein!«, sagte er, seine warme Stimme im starken Kontrast zur kalten Luft, die sie umgab. »Eine Synchronizität kosmischen Ausmaßes offenbart sich vor unseren Augen. Nennt es Zufall, das Wort für Gesetze, welche den Geist übersteigen. Doch lasset uns sprechen, bevor noch mehr Blut vergossen wird.«
Er stellte sich zwischen die Lichtpunkte und die auf dem Boden zusammengekauerte Zelia. Langsam und bedächtig reichte er ihr die Hand entgegen.
Zelia atmete schwer, ihr Blick wandte sich ungläubig zu dem Mann, der möglicherweise ihre Rettung oder ihr Verhängnis sein könnte. »Warum sollten wir euch trauen?«, keuchte sie, während sie Blut aus ihrem Mund spuckte und sich mühsam aufrappelte.
»Weil wir vermutlich gegen denselben Feind kämpfen«, erklärte der Zu-Kur. »Und manchmal bilden selbst die finstersten Pfade unwahrscheinliche Allianzen.«
Die Atmosphäre blieb geladen, jeder Muskel angespannt, bereit zum Kampf oder zur Flucht. Doch langsam senkten sich die Waffen. Der Wächter mit den unheimlichen Augen trat zurück, die Spannung etwas gemildert, die Strahlkraft seiner Augen abnehmend.
»So sprecht ... wer seid ihr? Was ist das für ein Ort? Was habt ihr hier unten verloren? Ausgerechnet jetzt, zu dieser Stund«, fragte Zelia, sichtlich bemüht, bei Bewusstsein zu bleiben.
Einige Momente vergingen, während die andere Partei sichtlich bemüht war, ihre Worte weise zu wählen. Der Zu-Kur wandte sich kurz der Gestalt mit den gelb leuchtenden Augen zu, als suche er nach Bestätigung.
Ein stummes Nicken vollzog sich, nur erkennbar durch das kurze Niedergehen der gelben Augen.
Der Zu-Kur sprach mit nachdenklicher Miene: »Wie bereits erwähnt. Weder ist dies hier Zufall, noch sind wir Drahtzieher dieser Tragödie, die sich soeben über unseren Köpfen entfaltet.«
Zelia, vor Zorn kochend, antwortete scharf: »Das ist keine Antwort. Wie sollen wir euch so vertrauen?«
Die Silhouette mit den roten Augen, schwer zu erkennen gegen das gleißende Licht, entgegnete kühl: »Du atmest doch noch, oder?«
Sofort stand Zelia wieder auf. Taumelnd, den Dolch in die Verteidigungshaltung gebracht.
»Selbes kann man über dich sagen! Wenn das alles ist, was den Frieden bewahrt, geht eurer Wege, oder bringen wir es zu Ende!«
Ein stummes, tiefes Kichern ging von der geheimnisvollen Person mit den gelben Augen aus.
»Was ist so amüsant daran?«, zischte Zelia in provokantem Ton.
Weitere Momente vergingen. Ein weiteres Abwägen. Ein weiterer fragender Blick nach hinten. Ein weiteres stilles Nicken.
Der Zu-Kur erklärte schließlich in ernstem Tonfall: »Mein Name ist Dr. Selas. Ich bin Pilzforscher. Ich lebe außerhalb der Stadt. In den Höhlen Xibalbas. Ich forsche an vorderster Front.«
Nickend wandte sich Zelia ihrem Angreifer zu. »Und du, grausige Gestalt?«, fragte sie hämisch.
Die Gestalt zögerte ebenfalls, wandte sich zurück und wartete auf Bestätigung.
»Nanazu«, sprach eine klare, tiefe Stimme. Erst jetzt fielen Zelia leuchtende Zahnräder und kymatische Leuchtschriften auf seinen Stiefeln auf.
»Eine seltene Apparatur trägst du da, Nanazu. Kein Wunder, dass du so schnell bist. Überträgst dein Wurzelchakra wohl auf die Stiefel. War sicher teuer. Wusste nicht, dass Zu-Kur sich da draußen solchen Luxus erlauben können«, sagte sie.
Nanazu erwiderte mit kraftvoller, dunkler Stimme: »Kein Luxus der Welt wiegt das Überleben auf, holde Maid. Doch wer sollte etwas über den Wert verstehen, wenn nicht du?«
Kurz entflammte Wut in Zelia, doch ihre Erschöpfung obsiegte schnell. Selbst diese verfloss sogleich in der Kälte, die sie umgab, als sie die unauffällige Anspielung verstand.
»Kennen wir uns?«, forschte sie weiter. »Zeig dich!«
Ein paar Augenblicke verstrichen. Plötzlich erstrahlte der Raum noch stärker im gelblichen Schein. Nanazu schwächte sein Augenlicht selbst ab. Dort stand ein großer junger Mann, einen großen Pilz-Hut tragend, seinen Mantel behangen mit allen möglichen kymatischen Apparaturen und allem, was man für das Leben in den tiefen Xibalbas gebrauchen könnte. Nein. Weitaus mehr. Da überkam Zelia die Erkenntnis:
»Moment! Ihr seid ... der Kartograph?!«, fragte sie erstaunt.
Ein stummes Nicken mit stolzem Lächeln bestätigte ihre Vermutung. »Und du bist Zelia. Gefährtin des berüchtigten Händlers Eladan. Vertrauensperson vor den Toren der Stadt. Und etwas zu gut geschult in der Kunst des Krieges, wie ich bemerken darf!«, entgegnete er.
Zelia war sichtlich bemüht, die Informationen zusammenzufügen, jedoch ohne Erfolg. Was sollte dies alles bedeuten? Der legendäre Kartograph? In geheimen Gängen unter der Stadt?
»Was ist das hier für ein Ort? Habt ihr ihn erbaut?«, forschte sie vorsichtig weiter.
»Wären Händler wie ihr unsere einzige Verbindung zur Stadt – bei allem Respekt für eure aufrichtige Arbeit – wir würden keinen Tag da draußen überleben!«, antwortete Nanazu.
»Also arbeitet ihr intern, für Menschen innerhalb der Stadt?«, fragte Zelia, sichtlich alarmiert durch diese Information.
Dr. Selas entschärfte direkt: »Ganz recht. Für die Menschen der Stadt! Treffend ausgedrückt!«
Zelia ließ die Information kurz auf sich wirken, doch schon gaben ihre Beine wieder nach. Sie fiel, nur um alsbald von Nanazu aufgefangen zu werden, der mit einem sausenden Ton herbeigeeilt kam.
»Lasst mich!«, nuschelte Zelia und riss sich los. Ihr Atem ging heftig, ihr Herzschlag raste.
»Wir können dir leider nicht mit einem Arzt dienlich sein. Jedoch können wir dir den Weg heraus weisen und ein wenig Proviant teilen. Solltest du hier allein das Bewusstsein verlieren, so werden die Elemente in kürzester Zeit ihren Tribut zollen«, erklärte Dr. Selas mit bedächtiger Stimme. Seine Augen funkelten im schimmernden Licht der biolumineszenten Pilze, die die Höhlenwände zierten.
Panisch erinnerte sich Zelia an die Kinder. Sie musste schnell zurück. Tokat könnte jeden Moment bei ihnen sein. Doch konnte sie diesen Personen wirklich trauen, die so spärlich mit ihren Informationen umgingen? Was war mit dem Jungen, mit Tammuz? Wenn er von solchem Wert war, reichten die Informationen aus, um seinen Aufenthaltsort preiszugeben?
Zelia musterte die schemenhafte Gestalt in der Dunkelheit, ihren Finger fest auf die geheimnisvolle Person gerichtet, die ihnen das Sehen in dieser Finsternis überhaupt erst ermöglichte. »Und wer... wer ist das?« Ihre Stimme zitterte, als sie die Frage aussprach.
Stille trat ein. Zögern. Und schon begannen die Zweifel von Neuem, nagten an ihrer Entschlossenheit.
»Zu eurem eigenen Schutze sollte dies für den Moment eine offene Frage bleiben...«, brach Dr. Selas schließlich die Stille. »Bringen wir euch zuerst in Sicherheit«, fügte er schlichtend hinzu, als er ihren wiederaufkommenden Argwohn bemerkte.
»NEIN!« widersetzte sich Zelia heftig. »Ich traue keinem, der sein Gesicht nicht zeigt. In diesem Falle weist mir meines Weges und zieht von dannen!«
Sie wartete einen Moment, ob ihr Argument eventuell einen Effekt erzielen könnte.
Da durchbrach schließlich die Stimme der geheimnisvollen Person die Stille: »Wie ihr wünscht«, sprach eine etwas schwächliche, ältere Stimme aus dem Lichtstrahl heraus. Sogleich klopfte die Person mit etwas, das einem Stock ähnelte, kraftvoll auf den Boden. Gelbe Funken sprühten beim Aufprall, und wie feine Adern zog sich ein Faden in einen der drei Wege, die sich offenbarten. Die Gestalt folgte dem Verlauf dieser Fäden.
Nach einigen Momenten brach in der Distanz etwas auf, und ein schwacher, dennoch vernehmbarer Lichtstrahl ging von jenem Tunnel aus. Die Gestalt hielt inne und schloss die Augen für einen Moment, als ob sie die Umgebung spürte.
»Es war mir eine Ehre, gnädigste«, sagte Dr. Selas verbeugend, sichtlich bemüht, das Treffen friedlich zu beenden.
Die Gestalt mit den leuchtenden Augen schritt auf sie zu, ruhig und bedacht. Doch Zelia konnte nicht umhin, dass eine gewisse Macht, oder vielleicht sogar Bedrohung von ihr ausging. Dann wandte sie sich ab, in Richtung eines der drei Tunnel. Die anderen beiden folgten der Gestalt lautlos.
Eine riesige Erleichterung überkam Zelia. Sie hatte bereits gefürchtet, dass die Gruppe ihren Weg dorthin fortsetzen würde, woher sie gekommen war. Doch gleichzeitig überkam sie eine neue Angst: Was, wenn sie die falsche Entscheidung getroffen hatte? Wenn die Dunkelheit mehr Geheimnisse barg, als sie ertragen konnte?
Wenn diese Tunnel so verwunden waren, würde sie den Weg zu den Kindern zurückfinden?
»Ach ja!«, unterbrach die Gestalt ihren stummen Gang. Alle hielten inne. »Solltet ihr zufällig auf einen Jungen mit weißem Haar treffen, zögert nicht, uns zu kontaktieren. Er ist eine Gefahr. Er darf auf keinen Fall in die falschen Hände geraten. In der Stadt ist er nicht sicher. Niemand außer uns ist in der Lage, ihn zu schützen. Nehmt dies.« Die Person reichte Dr. Selas einen geheimnisvollen Gegenstand.
Ein Schockimpuls durchfuhr Zelia erneut. Schon wieder der Junge? Eine Gefahr?
Sogleich trat Dr. Selas ein letztes Mal an sie heran und überreichte ihr ein Stück Papyrus.
»Dies sind Koordinaten, meine Liebste«, erklärte Dr. Selas in ruhigem Ton. »Gänzlich ungefährlich. Auf dem Markt vor der Stadt. Dort findest du unsere Kontaktperson. Er wird uns in Kenntnis setzen.«
Zelia nahm die kleine Karte an sich. Sie schien auf eigentümliche Weise selbst zu leuchten, einen leichten Schimmer zu verbreiten. Schweigend nahm sie diese entgegen und die mysteriöse Gruppe verschwand.
Sie wartete noch einige Augenblicke und sobald sie keine Schritte mehr vernehmen konnte, stolperte sie zu Taoh. Völlig am Ende ihrer Kräfte, kaum in der Lage zu gehen.
»Wir ... wir müssen zurück ... sofort!«, murmelte sie kraftlos, doch kurz darauf verlor sie das Bewusstsein.