Obgleich unfähig zu jeglicher Kymatik, hatte Zelia die subtileren Fähigkeiten des Geistes zu einem gewissen Grade gemeistert: die Zucht der Gedanken, die Beherrschung der Emotionen, die Kontrolle über die Funktionen des eigenen Körpers. Diese erlangten Talente mussten ihr nun beistehen. Doch Eladans Tod hatte eine tiefe Erschütterung in ihr verursacht, eine Verwirrung, die jede ihrer Fähigkeiten lähmte und wie ein bleierner Schleier über ihr lag. Ihre einst so präzise beherrschten Fähigkeiten waren wie zersplittertes Glas, das ihre Bemühungen zerschnitt. 

Ihr Geist, einst ein strahlendes Leuchtfeuer der Klarheit, war indes ein tobendes Meer, dessen Wellen aus Verzweiflung und Trauer sich über ihr erhoben. Es gab keinen Raum für das Eingeständnis ihrer Ohnmacht – nicht in diesen verzweifelten Stunden, in denen die Schatten der Vergangenheit übermächtig wurden und die Realität verzerrten. Zeit war ein Luxus, den sie sich erkämpfen musste, ein kostbares Gut, das ihr durch die Finger zu rinnen drohte. Sie sammelte sich, versuchte, die zersplitterten Fragmente ihrer Konzentration zusammenzufügen, um dem drohenden Wahnsinn zu entkommen.

Sie zog sich zusammen, ballte ihre Essenz und suchte verzweifelt die verlorenen Stränge ihrer Kraft. Tiefes Atmen, einst eine Säule ihrer Vorbereitungen, war außerhalb ihrer Reichweite. In ihrer Verzweiflung stellte sie sich den Akt eines tiefen Atemzugs vor, malte ihn sich in lebhaften Farben aus, entließ anschließend tatsächlich jede verbliebene Spur von Luft aus ihren Lungen und ließ los. Sie musste zurück in das greifbare Hier und Jetzt, musste sich dem Kampf stellen, der ihr bevorstand.

Ein Rauschen füllte ihre Ohren, während ihre Sinne sich schärften. Ihr Herzschlag glich dem Donnern eines Trommelorchesters, ein wildes Pochen, das die Stille durchbrach. Sie musste es verlangsamen, zu viel kostbare Energie wurde verschwendet. Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung konzentrierte Zelia ihre mentale Energie auf das Zentrum ihres Seins: ihr Herz, den Puls ihres Lebens. In der Dunkelheit suchte sie nach dem stillen, gleichmäßigen Rhythmus, der sie immer begleitet hatte.

Langsam legte sich ein Mantel der Ruhe über sie, ein zarter Hauch des Friedens inmitten des Sturms. Nur sie und ihr Herz, das langsamer und langsamer schlug, immer ruhiger, bis es kaum noch eine Regung zeigte.

Ihr Körper versetzte sich in Schwingung, als ein betäubendes Gefühl von tausenden winzigen Nadeln über ihre Haut strich. Sie spürte, wie ihr Körper federleicht wurde, fast als ob er nicht mehr ihr eigener wäre und schließlich eins mit der Luft um sie herum wurde. Das letzte Flackern ihrer Umwelt erlosch, und ihr Herzschlag entglitt ihrer Wahrnehmung. Eine tiefgreifende Stille breitete sich aus, eine Dunkelheit, die alles verschlang. Völlige Ruhe. Stille. Dunkelheit.

Unvermittelt gab der Nebel nach. Zelia nahm einen kaum hörbaren Atemzug. Die Luft strömte zaghaft, trotz des wilden Verlangens ihres Körpers nach Sauerstoff, langsam und stetig über ihre Nasenflügel nach oben, bis sie schließlich ihre Lungen füllte. Ihr Plan hatte Früchte getragen!

»Sie wünschen mich lebend. Aus Angst, mein Herz könnte versagen, haben sie ihre Handlungen eingestellt. Sie planen also, mich zu durchleuchten. Vermutlich war dies alles nur eine Illusion. Wäre der Nebel real, hätte ich am verschluckten Wasser ersticken müssen. Wäre ich nicht an der Schwelle des Lebens verharrt, hätten sie mich sicherlich bewusstlos mit sich genommen. Doch aus Angst, ich würde dabei sterben, haben sie es eingestellt. Jetzt kenne ich das Chakra von Gidim-Zu. Ich muss nur noch die richtigen Meridiane treffen! Doch ich muss den rechten Moment abwarten! Noch kann ich keinen Zentimeter meines Körpers rühren. Der Nebel hat mich fest im Griff ...«

Das Wissen um ihre Gegner war ihr einziger Anker in diesem Meer aus Nichts. Und so wartete sie, in der Hoffnung, dass ihr Opfer nicht umsonst gewesen war.

Die Kunst der Täuschung, die Manipulation des Körpers, war ihr stets ein Werkzeug gewesen, doch niemals zuvor hatte sie es in solch einem Maßstab angewendet. Ihre Atmung verlangsamte sich, ein kontrollierter Rhythmus, der sie in einen Zustand tiefster Trance versetzte. Die Welt um sie herum verschwamm, und für einen Moment fühlte sie sich eins mit dem pulsierenden Herzschlag des Universums. Doch die Illusion war nur eine Maske, eine dünne Schicht, die die brutale Realität verbarg. Jeder Atemzug war ein Tanz auf dem Drahtseil zwischen Leben und Tod, ein Balanceakt, der sie in die tiefsten Abgründe ihrer Seele führte.

Ungeachtet dessen musste sie weiterhin geduldig abwarten, was geschehen würde. Handeln konnte sie ohnehin nicht, doch immerhin war sie bei Bewusstsein. Jeder Moment zog sich endlos hin, ein quälendes Verweilen in der Dunkelheit, wo die Zeit selbst ihre Bedeutung verlor. 

Das letzte Mitglied der Versammlung war im Begriff, gerade den Raum zu verlassen. Zelia wagte es nicht, ihre Augen zu öffnen, als ob das einfache Blinzeln sie verraten könnte. Nur der Hall der Schritte hallte durch den langen Korridor und drang wie ein gespenstischer Ruf in den Raum. Die Stille danach war schwer, fast erdrückend, und sie konnte die Spannung in der Luft förmlich spüren, wie eine unsichtbare Hand, die ihren Atem kontrollierte.

»Ein solches Versagen werde ich kein weiteres Mal verzeihen!«, zischte plötzlich eine raue Stimme aus dem Hintergrund, durchdringend wie ein Dolch. Die Stimme gehörte nicht Gidim-Zu. Hatte eine Gruppe Unbekannter der gesamten Versammlung beigewohnt, verborgen im Schleier des Nebels? Zelia spürte, wie ihr Herz schlagartig  schneller schlug, ein dumpfes Pochen in ihren Ohren, das die unheilvolle Ruhe durchbrach.

Ein elektrisierendes Knacken erfüllte den Raum, das unverkennbare Geräusch von Kristallen, die ihre Spannung veränderten.

»Ein wenig mehr Informationen über ihren Kenntnisstand wären hilfreich gewesen«, entgegnete nun die sanfte, anmutige Stimme einer Frau aus der Richtung Gidim-Zus. Zelia konnte fühlen, wie der Nebel leicht nachließ, eine winzige Erleichterung in der erdrückenden Dunkelheit.

»Du hattest klare Anweisungen: ein Junge mit weißem Haar. Niemand sprach von seiner Augenfarbe oder seiner Kymatik«, erwiderte die harte Stimme eines Mannes schroff, seine Worte wie Peitschenhiebe in der gespannten Luft. »Die Sibbitti werden von deiner Nachlässigkeit erfahren. Du hast die Mission gefährdet. Dein Anwärtertum für das Löwenblut steht infrage.«

»Und war euer Pfad je frei von heroischen Blüten, mein Meister Tokat?«, konterte die Frauenstimme mit leicht arrogantem Unterton. Ihre Worte trugen eine gefährliche Mischung aus Stolz und Trotz, die die Spannung in der Luft noch verstärkte.

»Wähle deine nächsten Worte sorgfältig!«, bellte die dunkle, tiefe Stimme.

»Du hast uns einen ehrenwerten Dienst erwiesen«, sprach Tokat, sich einer anderen Richtung zuwendend. »Als Gegenleistung werde ich dich als Anwärter nominieren. Deine Apparaturen zeugen von einem tiefen Verständnis der Kymatik. Persönlich hätte ich dich gern weiterhin als Installateur für die Sibbitti selbst. Es wäre ein tragischer Verlust, dich an das Löwenblut zu verlieren. Dir sind die Konsequenzen vollends bewusst?«

Die Worte Tokats hallten in der Dunkelheit wider, ein leises Murmeln, das sich in die Ecken des Raumes verzog. 

»Ja, mein Herr!«, erklang neben Zelia eine vertraute Stimme, leicht verändert durch die fehlende Schallveränderung des Nebels, dennoch eindeutig dem Wellenschmied zuzuordnen. Diese Verräter! Kurz überkam Zelia die Wut, und ihr Herz machte einen kurzen Satz – doch sofort erinnerte sie sich der Leere. Sie durfte nicht auffliegen. Für einen Moment herrschte Stille, eine erdrückende, allumfassende Stille. Sie fühlte, wie die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf ihr ruhte, wie das Gewicht von Blicken, die in der Dunkelheit verborgen lagen.

Dann sprach Tokat erneut: »Die Identität der anderen Mitglieder wird in den nächsten Minuten aufgedeckt, sobald sie aus dem Untergrund aufsteigen. Wir werden sie vorerst verfolgen und das gesamte Netzwerk an der Wurzel ausreißen. Doch zunächst, lasst uns herausfinden, wo der Junge die Klinge versteckt hält. Was für eine merkwürdige Wendung, dass die Lösung unseres Problems uns sofort auf dem Präsentierteller serviert wird! Löse den Nebel, Laveau!«

Laveau – war dies nicht die überaus talentierte, einstige Schülerin Yagas, als diese noch die Führung der Auranen besetzte? Zelias Gedanken rasten, während sie sich daran erinnerte, wie Laveau einst für ihre Fähigkeiten gerühmt wurde, eine Meisterin der Illusionen und Täuschungen.

Im nächsten Moment spürte Zelia, wie der Nebel um ihren Kopf sich lichtete. Nun galt es, absolute Ruhe zu bewahren! Ein kleinstes Muskelzucken könnte sie verraten. Der Nebel zog sich zurück, enthüllte ihr Gesicht und ihre Haar. Die Stille war nicht mehr nur erdrückend, sondern beinahe quälend.

»Wenn das mal nicht feuerrotes Haar ist. Genau, wie der Zeuge berichtet hatte. Treffend. Selten. Und anhand ihrer Reaktion wird sie sicher diejenige sein. Schickt nach den Auranen. Wir lesen sie aus!«, befahl Tokat. Eilige Schritte trampelten durch den Korridor, der Treppen nach oben, ein hektisches Trommeln.

Wie viele Personen waren hier anwesend? Zelia konnte nur raten. Sie wusste, dass ihre Zeit ablief und das Spiel um Leben und Tod sich in einem unausweichlichen Höhepunkt näherte.