Verdutzt ließ Kamura die beiden Jungen zurück – verwirrt und perplex von der ungewohnten Härte in seinen Worten. Auf dem Weg die Treppen hinunter wischte sich Kamura eine einsame Träne von der Wange. Sogleich fokussierte er sich jedoch auf sein Ziel. Zelia war noch immer allein, womöglich in Gefahr. Als er die Tür öffnete, traf ihn der Anblick wie ein Schlag; was aus der Distanz unerträglich war – erweckte hier unten ein Einblick in die Hölle selbst.
Inzwischen waren Feuerkämpfer angekommen. Die Leitungen unter der Stadt waren angezapft – wurden durch lange Rohre gezogen, landeten in einer kastenförmigen Apparatur, aus der ein Kristall funkelte – und das Wasser mit ungeheurem Druck auf die Trümmer warf.
Verletzte lagen auf dem Boden, in den Armen ihrer Liebsten, weinend – einige leblos, andere dem Tode nahe, mit glasigem Blick in die Leere. Worin konnte Zelia nur geraten sein, was konnte solch grausame Konsequenzen nach sich ziehen? Ein solches Szenario hatte sich nach Kamuras Wissen seit Anbeginn der Stadt bisher nicht zugetragen. Naraka mag von harter Hand geführt worden sein – doch stets friedlich.
Diese Szenerie brach das Gewohnte in solch schierer Kraft, dass die Menschen völlig aufgescheucht in Panik schreiend umherliefen – unwissend, was zu tun ist. Vermutlich hatte die Evakuierung an den Mauern der Stadt vor einigen Tagen – an jenem schicksalshaften Tag, da die Ghouls angriffen – ebenso ausgesehen. Wer sollte es ihnen verübeln? Auf diesen Anblick war keiner gefasst.
Konzentration! Fokus! Wo ist Ama? – erinnerte sich Kamura. Er lief geschwind in Richtung des Ortes, wo der Spalt sein musste. Beinahe trat er in ein Loch, das sich im Boden aufgetan hatte. Kurz starrte er in eine ungewisse Tiefe, die sich unter ihm auftat. Waren unglückliche, taumelnd im Rauch, in eines dieser Löcher gestürzt? Welch grauenvolles Schicksal. Doch er musste weiter. Fokus! Er suchte nach flammendem Haar – doch sogleich erinnerte er sich, dass Zelia sich verborgen hielt.
Er gelang an den Ort, an dem nach seinem Gefühl der Spalt sein musste. Und tatsächlich, fast verborgen, kaum unterscheidbar von den gefallenen Trümmern, war Zelia auf Knien, hinunter fassend. Schreie drangen zu ihr hinauf. Dort waren Kinder. Die Haare stellten sich ihm zu Berge. Diese Schreie ... sie waren nicht einfach Schreie nach Hilfe. Es waren fürchterliche Schmerzensschreie. Wollte er wirklich erblicken, was diese grausamen Geräusche aus diesen zaghaften Körpern entlockte?
Keine Zeit für solche Gedanken. Schon war er herbeigeeilt. Er ließ sich neben Zelia nieder. Ihr Blick offenbarte innerhalb Sekunde eine rasche Abfolge von Gefühlen. Erst Verzweiflung. Dann Zorn. Dann Dankbarkeit. Dann mahnend und schließlich akzeptierend, dass es sich nicht ändern ließ und allzu Wichtigeres auf dem Spiel stand. Sie teilten einen kurzen, intensiven, leidvollen Blick aus. Dann blickte Kamura in den Abgrund vor ihm, bereit für alles, was ihm dort entgegenblicken mochte – ihm würde es in jedem Fall besser gehen als den armen Seelen da unten – egal, was er dort erblickte. Doch sofort im Moment bereute er diese Entscheidung.
Aus der Dunkelheit des Spalts blickte ihm das schmerzverzerrte Gesicht eines Mädchens entgegen. Sie war ihm nicht unbekannt. Schwarze Zöpfe, große runde Brillengläser ... normalerweise spielte sie in der Nähe an ihrem typischen Platz mit Seilen, meist allein – weshalb sie diese an der Reling der Brücke befestigte. Sie war Passanten oft im Weg, doch immer, wenn Kamura sie sah, dachte er sich, er sollte sie vielleicht Taoh mal vorstellen, da dieser auch eher ein Einzelgänger war. Beim nächsten Mal ... Einfach eine weitere, freundliche Hand am Seil, statt des kalten Geländers der Brücke. Das hatte er ihr stets gewünscht, im Vorbeigehen.
Und nun war dieses nächste Mal ... alsdann reichten eben jene Hände blutig und verkrampft nach den seinen. Das Gesicht, voll Schmerz. Liegend in einer Lache von Blut. Die Hüfte abwärts unter den Trümmern. Ungewiss, wo genau sie eingeklemmt wurde. Kamura schaute Zelia durchdringend an. Er brauchte kein Arzt sein, um zu erkennen, dass eventuell ihr gesamter Unterkörper zerquetscht war – und was mit ihrem Körper passieren könnte, sobald der Druck von ihr abfiele; gleichwohl man es schaffen würde. Doch wer könnte einen Titanpilz anheben?
Zelia las stumm seine Gedankenabfolgen von seinem Gesicht ab. Obwohl er wusste, dass Zelia absolut keine Kymistin ist, überkam ihn schnell der Vergleich zu seinen Treffen mit Yaga.
»Wir können sie hier nicht allein lassen. Sie sagt, sie spürt ihre Beine nicht. Doch der Rest schmerzt. Ich kann sie nicht herausziehen. Unmöglich. Sie kann aber auch nicht hierbleiben. Wir müssten amputieren – wenn möglich. Aber ich passe dort nicht hinunter – kein Erwachsener passt dort hinein«, sprach Zelia gänzlich offen – was Kamura verwunderte. Doch die Situation ließ es nicht anders zu. Bei dem Geschrei konnte das arme Mädchen sie vermutlich ohnehin nicht hören.
Wortlos griff Kamura in seinen Mantel und zückte den Resonator.
»Er ist nicht geladen«, entgegnete Zelia sofort. »Außerdem wissen wir nicht, für welches Chakra er entwickelt wurde. Wenn du Glück hast, ist es ein simpler Chakra-Resonator, der deine Schwingungen verstärkt und ausstrahlt. Wenn du Pech hast, ist er für einen speziellen Anwender konzipiert worden und überlädt, sobald du ihn nutzt. Im schlimmsten Fall gibt es eine kymatische Entladung. Eben eine solche Explosion hat diese Hölle hier erst ins Leben gerufen!«
Bei diesen Worten blickte Kamura sich geschockt um. All dies, nur wegen Kymatik? Was war diese Kraft nur? Und viel wichtiger: Wer würde so etwas tun? Doch da er seine Mutter kannte, sparte er sich die Fragen. Sie würde sie ohnehin nicht beantworten. Ihm zuliebe.
»Ich muss es versuchen. Wenn auch ohne das Artefakt. Ich muss etwas tun!«, hetzte Kamura, gequält von dem Anblick und den Schreien des Mädchens unter ihnen. Für einen Moment wollte Zelia widersprechen, doch durch Kamuras Augen erkannte sie flüchtig den entschlossenen Blick von Eladan. Dieser besondere Blick, als wüsste er genau, was zu tun ist – selbst wenn sie ganz genau wusste, dass dem nicht so war.
Sie tat einen Schritt beiseite. Kamura schloss die Augen, fokussierte all seine Geisteskraft und versuchte, das Geschrei und das Chaos kurz vorbeifließen zu lassen. Dann öffnete er die Augen. Eine ungeheure Kraft durchströmte ihn sofort. Er begann mit einem leichten Summen.
Die Hände auf sein Ziel gerichtet, wie er es bereits bei einem Kymisten des Halschakras beobachtet hatte, als er noch klein war. Er musste etwas scheinbar Unmögliches vollbringen: Statt sich selbst und seinen Körper in Schwingung zu versetzen, sollte er die Schwingung auf einen anderen Ort übertragen – oder aber die perfekte Resonanz seines Ziels nachahmen – um es levitieren zu lassen. Er hatte jedoch noch nie jemanden gesehen, der dies ohne Resonator getan hatte.
Aus seinem leichten Summen wurde ein Brummen und schon bald pulsierte eine tiefe Frequenz, mit ihm als Epizentrum. Tieffrequente Wellen waberten über den Boden und setzten alles um ihn herum in Schwingung. Er fokussierte sich weiter und wie durch ein Wunder geriet er in Tiefen, die er selbst noch nie erreicht hatte. Doch sein kleiner Erfolg wurde jäh unterbrochen, durch das durchdringende Schreien des Mädchens, das selbst seine Kymatik zu übertönen vermochte. Sie hielt sich die Ohren zu, das Gesicht verzogen vor Schmerz. Blut trat aus ihrer Nase. Sofort unterbrach Kamura.
»Es tut mir leid!«, rief er verzweifelt und reichte ihr die Hand. Strich ihr durchs Haar. Schmerzlich wurde ihm bewusst: Dies war nicht die Zeit für Experimente. Und schlimmer noch: Was er noch soeben an Taoh und Tammuz gepredigt hatte ... Es galt wohl auch für ihn selbst. Tränen in den Augen saß er da, die Hand des Mädchens haltend. Zelia legte ihre Hand auf seine Schulter. Beide wussten, es gab nichts, was sie tun konnten – außer ihr beizustehen oder sie zu erlösen.
»Mächtiges Kaagyra hast du, Kleiner!«, erklang eine raue, durchdringende Stimme direkt hinter ihnen. Zelia stockte der Atem. Diese Stimme hatte sich in der kurzen Zeit förmlich in ihren Geist gebrannt. »Und das ganz ohne geladenen Resonator?«, fügte Tokat erstaunt hinzu.
»Ein Kymist kannst du nicht sein ... nicht mal in der Ausbildung. Wie man Kristalle auflädt oder auch als Katalysatoren der Kymatik nutzt, das sind die absolut ersten Lektionen. Wie auch immer du trotzdem zu solch einem Kaagyra gekommen bist ... ihr Narakianer verblüfft mich immer wieder«, sprach Tokat in seiner gewohnt militärischen Manier, während er Kamura musterte, der ihm mit seinen türkis lodernden Augen ein Blickduell lieferte. Zelia, mit einer Kapuze ihm den Rücken zugewandt, griff bereits vorsichtig und unauffällig nach ihrem Obsidian. Diesmalig hatte sie vielleicht eine Chance. Doch Kamura musste aus dem Weg. Tokat stand wieder einmal in einem ungünstigen Winkel, Kamura direkt zwischen ihr und ihm. War dies sein typisches Vorgehen?
In Kamura ging bereits ein Wirbelwind der Emotionen vor. Hatte man ihn nun vollends erwischt? Die roten, lodernden Augen verhießen nichts Gutes. Dies war ein Kommunist. Doch keiner, wie ihn Kamura je erblickt hatte. Sein Körper war von roten Adern durchzogen, die in derselben Intensität leuchteten wie seine Augen. Rhythmisch pumpte rotes, leuchtendes Blut durch seine Adern. Und auch die Helligkeit und Stärke seiner Augen übertrafen alles, was Kamura jemals gesehen hatte. Eladan selbst war ein Wurzelchakra-Kymist gewesen. Und absolut nicht untalentiert. Doch die beiden trennten Welten. Es war, als wenn Tokats Stärkewellen über den Boden leiteten, nicht unähnlich denen von Kamura. Ein merkwürdiges Brummen ging von ihm aus. Unbestimmbar, ob extrem hoch oder extrem tiefe Frequenz. Doch eine solche Frequenz hatte Kamura bislang nicht vernommen.
»Es war jedoch weise, deine Handlung einzustellen, Junge!«, fuhr Tokat schließlich fort. »Bei der Stärke und geringen Distanz, kombiniert mit dem Hohlraum, in den du deine Frequenz lauten wolltest«, zeigte Tokat auf den Spalt im Boden. »Bei dem Klangkörper wäre ihr wohl einige Momente später der Kopf zerplatzt!«
Zelia hatte ihren Obsidian bereits fest umschlossen, bereit, in jedem Moment schwungvoll umzudrehen und ihre Attacke zu starten. Sie hatte kaum noch Kraft. Dieser Kampf musste schnell enden, oder sie würde verlieren. Tokat hatte vermutlich bereits sein gesamtes Chakra über den Boden ausgetauscht. Er war vermutlich frisch wie vor dem ersten Kampf. Sie hingegen war völlig am Ende ihrer Kräfte.
»Das Mädchen ist nicht mehr zu retten!«, sprach Tokat verhohlen. »Sobald wir den Stein heben, wird ihr Inneres sie verlassen, bevor der letzte Atemzug es tut«, fügte er hinzu.
»Wir werden es dennoch versuchen!«, widersetzte sich Kamura. Er hielt für einen Moment inne, dachte nach ... »Wenn ... sie es will!«, ergänzte er.
Tokat musterte ihn einen Moment. Zelia wartete nur auf den Moment, dass er sich in Bewegung setzt, um den perfekten Winkel zu bekommen. Dann wanderte Tokats Blick zu dem weinenden Mädchen. Er tat einen Schritt. Zelia machte sich bereit, neigte ihren Kopf leicht zur Seite und nutzte den glänzenden Obsidian in ihrer Hand, um ein leichtes Spiegelbild zu erhaschen. Rote, leuchtende Augen stachen durch den schwarzen Kristall hinter Kamuras Silhouette hervor.
»Also gut. Beiseite! Wir überlassen es ihr selbst und keinem anderen. Du, mein Junge, bleibst aber schön hier. Ohne dich wird es schwer!«, sagte Tokat.
Verwundert und verwirrt sah Zelia die Augen näherkommen. Ein Schritt, zwei Schritte und schließlich wurde der Winkel perfekt. Sie würde aus der Distanz bei der Menge an Obsidian ganz sicher mehrere Treffer auf die Meridiane haben und mehrfach seine Halsschlagader durchbohren können. Der Schrecken hätte ein Ende. Doch da war vor ihr noch immer dieses Mädchen. Schreiend und weinend. Zwei Seelen brannten in ihrer Brust. Zum Schutze ihrer Familie: Sollte sie es nicht beenden, hier und jetzt? War dem Mädchen überhaupt noch zu helfen? Würde sie diesen Moment für immer bereuen, wenn sie zögerte?
Doch erneut traf ihr Blick den des Mädchens. Es war nicht recht. Ein solcher Sieg wäre von keinem Wert. Das war nicht sie. Sie entfernte sich unauffällig, den Kopf geneigt, verhüllt unter der Kapuze, die Unterwürfige spielend. Für einen Moment spürte sie die aufmerksamen roten Augen auf sich. »Und wer bist –«, sprach Tokat, doch wurde jäh unterbrochen von einer schluchzenden, weinenden Dame, die sich ihm zu knien warf: »Bitte! O Herr, bitte rettet meine Nichte! Sie lebt! Sie ist stark, sie kann es schaffen! Oh Herr, bitte!«, schrie Zelia, seine Beine umklammernd.
»Wenn ihr wollt, dass sie lebt: Aus dem Weg, sofort!«, zischte er und zog sein Bein abfällig von ihr. Während er zügig zum Spalt ging, fügte er hinzu: »Keine Macht haben, ist die eine Seite, doch sich von Panik derart kontrollieren lassen, dass man glückliche Fügungen selbst blockiert, das ist unverzeihlich.«