»Ist ja gut! Beim Lichtbringer! Willst du uns alle umbringen?«, krächzte eine Stimme aus der Dunkelheit, aus der Wand, welche bis eben noch von undurchdringlichem Fels besetzt war. Diese Augen, leuchtend und durchdringend, schienen direkt in die Seele zu blicken, ein Fenster zu einem Wesen, das ebenso Teil dieser verborgenen Welt war wie die Dunkelheit selbst.
»Ach ... du bist es, Kamura! Du kannst doch eine alte Dame nicht so erschrecken. Ich benötige meinen Schlaf ...«, die großen Augen starrten ihn an, unverwandt und durchdringend, als könnten sie bis in die tiefsten Winkel seiner Seele blicken.
»Entschuldige, Yaga. Aber es drängt leider. Ich brauche neuen Obsidian. Meiner verliert an Wirkung. Es gab auch gerade einen Vorfall auf dem Markt ...«, sprach Kamura, seine Worte schnell und mit einer Spur von Verzweiflung, als befürchtete er, dass jede Sekunde zählen könnte.
Die großen Augen musterten ihn eingehend, bevor sie sich auf Taoh richteten. »Oooh, Taoh. Lang nicht gesehen. Kommt erst einmal rein, meine Kinder«, flüsterte sie verschwörerisch, während sich ihr Ausdruck schlagartig zu einem entspannten Lächeln wandelte, das, trotz der umgebenden Dunkelheit, warme Züge annahm; nicht unähnlich einer lieben Großmutter.
Mit einem Schritt durch die Dunkelheit, als würden sie einen unsichtbaren Vorhang beiseiteschieben, befanden sie sich plötzlich in einem farbenfrohen Zimmer.
Die Lumiflora verlieh dem Raum eine angenehme Frische und beleuchtete ihn mit einem sanften, einladenden Schimmer – ein völliger Kontrast zu der drückenden Dunkelheit, die sie gerade noch umgeben hatte. Doch trotz seiner Farbpracht war dieses Zimmer keineswegs ein Ort der Gemütlichkeit; es war das Reich einer Hexe.
Merkwürdige Zeichen bedeckten die Wände, Kerzen brannten mit Flammen, die nie zu verlöschen schienen, und in der Mitte des Raumes thronte ein Schädel auf einem Tisch, umgeben von unzähligen uralten Büchern, die jeden freien Platz beanspruchten.
Eingelegte Pflanzen und Körperteile von Lebewesen, Tinkturen und allerlei Gläser mit Inhalten, die Taohs Fantasie überstiegen, füllten den Raum. Und doch, trotz der biolumineszenten Beleuchtung und der flackernden Kerzen, zog ein Objekt magisch die Aufmerksamkeit auf sich – ein schädelgroßer, dunkelblauer Kristall, der auf dem großen Tisch ruhte, als wäre er das Herz dieses geheimnisvollen Ortes.
Die Frau, die Kamura und Taoh in ihren farbenprächtigen Zufluchtsort führte, war eine Gestalt von faszinierender Komplexität. Yaga, wie sie genannt wurde, erschien vor ihnen nicht einfach als Bewohnerin dieser unterirdischen Welt, sondern als deren lebendige Essenz.
Ihre grauen Haare, verfilzt und wild, umspielten ihr Gesicht wie ein Vorhang aus Nebelschwaden, durchbrochen nur von dem kleinen Kristall, der auf ihrer Stirn thronte – ein leuchtendes Zeichen ihrer Verbindung zu den geheimnisvollen Kräften, die sie umgaben.
In der Anwesenheit Yagas fühlten sich Kamura und Taoh, als hätten sie die Schwelle zu einer anderen Dimension überschritten. Viele kleine Kristalle dienten als Perlen in ihrem Haar und als Schmuck, funkelten in einem ständigen Dialog mit dem Licht der biolumineszenten Umgebung.
Es war offensichtlich: Vor ihnen stand eine Frau, die nicht nur jene verborgenen Geheimnisse der Kristalle beherrschte, sondern auch jene düsteren Pfade kannte, über die lediglich im Flüsterton gesprochen wurde. Kristalle waren nicht nur ihre Leidenschaft, sondern auch ein integraler Bestandteil ihres Wesens.
Ihr Blick, warm und freundlich, ruhte auf den Brüdern, ein stilles Willkommen in einer Welt, die wenige je betreten hatten. Doch in den Linien ihres Gesichts, gezeichnet von zahllosen Falten, lag die Andeutung einer tieferen, dunkleren Geschichte. Diese Falten erzählten von einer Frau, die im Laufe ihres langen Lebens viele Masken getragen hatte, einige davon weit dunkler als ihr gegenwärtiges, freundliches Antlitz vermuten ließ.
Ihre Kleidung, ein Sammelsurium aus Stoffen und Farben, war übersät mit Taschen, die allerlei mysteriöse Gegenstände und Zutaten für ihre Zauberarbeiten bargen. In ihrer Hand hielt sie einen großen Stab, gekrönt von einem schweren Kristall, dessen Leuchten im Zwielicht des Raumes fast magisch erschien. Dieser Stab, ein Symbol ihrer Macht und ihres Schutzes, eine Last, die nur jemand wie Yaga tragen konnte – jemand, dessen Stärke nicht allein im Physischen lag.
Als sie das Zimmer betraten, legte Yaga den Stab beiseite. Er ruhte nun harmlos in einer Ecke des Raumes, sein Kristall immer noch sanft im Licht der Umgebung glimmend. Ihre Gestalt war von einer Aura umgeben, die gleichzeitig Einschüchterung und Faszination ausstrahlte. Ihre Augen, tief und unergründlich, waren fähig, in die Seelen der Brüder zu durchdringen, als könnten sie deren tiefste Geheimnisse und Ängste erkennen. Kamura und Taoh, sonst so kühn in ihren Abenteuern, standen indessen still, ergriffen von der Macht und der Präsenz der Frau, die vor ihnen stand.
Yaga, deren Silhouette im schummrigen Licht ihrer Kristallkugel ein Mosaik aus Macht und Geheimnissen schwebte, thronte hinter einem massiven Tisch. Dieser Tisch, gezeichnet von Narben der Vergangenheit, erzählte stumme Geschichten. Taoh stockte kurz der Atem, als er Flecken getrockneten Blutes auf dem Holz entdeckte, fast in kunstvoller Form in die Maserung des Holzes gezogen, als seien sie Teil eines okkulten Rituals. Dies war kein gewöhnlicher Ort; dies war ein Schauplatz, an dem das Schicksal selbst gewoben wurde, wo die Grenzen zwischen den Welten dünn wie das Blatt eines Messers waren.
Als Taoh die kunstvollen Flecken betrachtete, fühlte er eine seltsame Mischung aus Furcht und Faszination. Das Blut auf dem Tisch war nicht einfach ein Relikt vergangener Rituale; es war ein Zeichen der Macht, die hier gewirkt wurde – eine Macht, die ebenso verlockend wie gefährlich war. Yaga, deren Augen im flackernden Kerzenlicht wie dunkle Ozeane glänzten, in denen sich unendliche Weisheit und unheilvolle Geheimnisse spiegelten, musterte Taoh mit einem Blick, der durch Mark und Bein ging.
Da sie seinen Blicken und Gedanken mit Leichtigkeit folgen konnte, lehnte sie sich vor, ihre Stimme klang wie das Wispern des Windes, als sie sprach:
»Das Schicksal ist ein Gewebe, in das wir alle eingewoben sind. Doch nur wenige erkennen die Fäden, die ihr Leben lenken!«
Sie fixierte Taoh weiter mit tiefem Blick, als sich eine plötzliche Lockerung ihres konzentrierten Gesichtsausdrucks vollzog.
»Aaaah. Du bist ein Träumer, mein Junge. Nun denn, so werden meine soeben gesprochenen Worte wohl für dich ganz besonders gelten«, führte sie mit wissendem Lächeln hinzu.
Als sie sich mit einer Autorität, die eine jahrhundertealte Weisheit und ihre tiefe Verbindung zur mystischen Welt der Kymatik widerspiegelte, hinter ihrer Kristallkugel positionierte, fixierte sie Kamura mit einem Blick, so durchdringend, dass er das Gefühl hatte, sie könne direkt in seine Seele blicken.
»Du warst doch vor nicht allzu geraumer Zeit bei mir, wegen eines Obsidians, um dich zu 'verteidigen'. Du scheinst ja recht kämpferisch zu sein? Wie kommt es, dass er bereits seine Kraft verloren hat?«, eröffnete Yaga das Gespräch mit einer ironischen Note in ihrer Stimme, ihre Augen funkelten vor verborgenem Wissen, als könne sie längst die Tiefen von Kamuras Seele ergründen.
Kamura, dessen Stirn sich in tiefe Falten legte, hatte die Sinnlosigkeit einer Lüge bereits in dem Moment erkannt, in dem er den Raum betrat. Ein kurzes, selbstvergessenes Lächeln umspielte seine Lippen, als sein Blick auf die Kugel fiel; ironischerweise eben eines jener mächtigen Artefakte, vor denen er in erster Linie zu fliehen gedachte. Doch das Lächeln entwich ihm schnell, als ein schwacher, indigofarbener Impuls durch den Raum ging – ausgehend von ebenjenem Objekt und in perfekter Synchronisation mit einem Aufflackern in Yagas Augen.
Das zarte Leuchten, das die Stille des Raumes durchbrach, war mehr als nur ein visuelles Phänomen; es war eine Demonstration roher Macht, ein subtiles Spiel der Kräfte, das Kamura bis ins Mark erschütterte. Yagas Augen, nun von einem tiefen Indigoblau durchzogen, spiegelten nicht nur das Leuchten der Kugel wider, sondern auch das unermessliche Wissen und die Macht, die sie über die Geheimnisse der Kymatik besaß.
Kamura schluckte schwer, der trockene Mund ein Zeugnis seiner plötzlich aufkommenden Nervosität. Das kurze Lächeln, einst Ausdruck seiner vermeintlichen Überlegenheit, verwandelte sich in ein Anzeichen seiner Verwundbarkeit. »Ich ...«, begann er, seine Stimme zögerlich und leiser als beabsichtigt, »Ich habe versucht, meine Kymatik mit dem Obsidian zu zähmen.
Ich bin fast täglich auf dem Markt. Und täglich wird meine Kymatik stärker. Leider beherrsche ich mich bislang nicht genug. Gerade heute war ich derart verärgert, dass meine Kymatik die neutralisierenden Wirkungen scheinbar vollends aufgebraucht hat.«
»Du bist mir ja eine Erscheinung, Kamura«, begann sie mit amüsierter Stimme, die sowohl forschend als auch prüfend klang, als würde sie jedes seiner Worte auf die Waagschale der Wahrheit legen. »Fast jeder in Naraka jagt dem Geheimnis der Kymatik nach, und du? Du scheinst nichts weiter zu wollen, als die Kräfte in dir zu unterdrücken. Warum?«
»Vielleicht liegt es daran, dass ich mehr von Atlan in mir habe, als mir guttut ... Ich stehe am Scheideweg. Soll ich seinem Pfad folgen oder ein sicheres, einfaches Leben innerhalb Narakas Mauern führen? Mit meinem Kargyraa könnten wir zur Oberschicht aufsteigen, sorgenfrei leben. Ich könnte bei meiner Familie sein. Doch der Preis der Transparenz, des gläsernen Seins, widerstrebt mir zutiefst!«
Yagas Augenfarbe gewann an Intensität, wieder im Einklang mit dem sanften Leuchten ihrer Kugel ruhten sie unverwandt auf ihm, als wolle sie ihn ermutigen, noch tiefer zu graben. Es war ein stummer Aufruf, mehr von seinem Innersten preiszugeben, ein Appell, der tief in Kamura widerhallte.
Kamura, der ihre stille Aufforderung verstand, fuhr fort:
»Ich übe heimlich, nicht weit von hier ... um zu überprüfen, wie weit mein Kargyraa fortgeschritten ist, falls ich die Stadt verlassen muss. Ich müsste da draußen irgendwie überleben. Und die erfolgreichsten Zu-Kur da draußen beherrschen alle eine Form der Kymatik. Es ist bisher nicht viel, aber jedes Mal, wenn ich übe, fühlt es sich stärker an als zuvor. Es wächst, als hätte es ein Eigenleben ...«
»Ja, das habe ich gehört. Als du das letzte Mal hier warst, warst du noch beim Sygyt. Du scheinst ein ungewöhnliches Talent zu haben«, entgegnete Yaga, ein Anflug von Amüsement in ihrer Stimme.
»Ich brauche einfach noch etwas Zeit, um mich zu entscheiden«, gestand Kamura, eine Spur von Unsicherheit in seiner Stimme.
Ihr Blick verengte sich, als sie Kamura über den Rand ihrer Kristallkugel hinweg musterte. »Interessant ... deine Kymatik wächst auf eine Weise, die selbst in den alten Schriften kaum Erwähnung findet. Während ihrer Ausbildung schaffen es die meisten Anwender des Hals-Chakras erst nach mehreren Jahren des Trainings, ins Kargyraa zu gelangen – wie du es eben präsentiert hast. Eine seltene Gabe – oder ein seltener Fluch.«
Die Luft im Raum verdichtete sich, als Kamura seine Schultern anspannte, die Last seiner Fähigkeiten spürbar machend. »Ich ... Ich fürchte mich vor meiner eigenen Kraft. Jedes Mal, wenn ich sie nutze, spüre ich, wie sie mich zu überwältigen droht. Es ist, als ob ein wildes Tier in mir erwacht, bereit, auszubrechen.«
Taoh blickte gänzlich entgeistert drein, immer noch den Tisch fixierend, als er zum ersten Mal von diesen Unsicherheiten seines Helden erfuhr. Yaga, deren Blick nun wieder das gewohnte warme Leuchten annahm, nickte langsam, als würde sie ein altes, oft erzähltes Märchen bestätigen. »Die Kymatik ist ein Spiegel deiner Seele, Kamura. Sie wächst mit deinen Emotionen, deinen Ängsten, deinem Willen. Ein Obsidian kann vorübergehend ein Hilfsmittel sein, aber die wahre Kontrolle kommt von innen.«
Yaga lehnte sich zurück, ihre Finger spielten nachdenklich mit einem kleinen, leuchtenden Kristall. »Die wahre Frage ist, Kamura, wie gehst du mit dieser Macht um? Die Geschichte lehrt uns, dass große Macht eine noch größere Verantwortung erfordert. Hast du jemals darüber nachgedacht, was es bedeutet, diese Kraft zu besitzen und sie weise einzusetzen?«
Kamura blickte auf, ein Funken der Erkenntnis in seinen Augen. »Ich habe ... Ich habe immer nur daran gedacht, sie zu kontrollieren, nicht aber, was es bedeutet, sie zu besitzen!«
»Und genau dort liegt dein Fehler. Deine unkontrollierte Kymatik gefährdet nicht nur dich, sondern auch diejenigen um dich herum. Es ist an der Zeit, dass du lernst, mit deiner Gabe umzugehen, nicht als Last, sondern als Verantwortung. Dein Zögern ist nicht mehr als eine aufgeschobene Entscheidung, Zeugnis deines Wesens. Doch wie du dich auch entscheidest, du wirst deine ungeheuer schnell wachsenden Kräfte kontrollieren lernen müssen. Sollten sie dich finden, weißt du, dass deine Entscheidungsfreiheit verwirkt ist. Du wirst registriert und in regelmäßigen Abständen dem Auranen vorgeführt werden. Solltest du jemals deine Meinung ändern, werden sie von dort an auch von eventuellen Fluchtversuchen wissen und was auch immer sonst deine Familie noch vor dem Anblick des Lichts verbergen mag!«
In diesem Moment, als ob das Schicksal selbst ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, zitterte der Raum leicht, ein sanftes, aber bestimmtes, unhörbar tiefes Beben, das unwillkürlich von Kamura ausging. Das Leuchten seiner Augen reflektierte die tiefe innere Zerrissenheit, die er empfand – ein Kampf zwischen der Furcht vor der eigenen Macht und dem Wunsch, sie zum Wohl aller zu meistern.
Yaga beobachtete ihn, ihr Blick durchdringend und doch nicht ohne Mitgefühl. »Du stehst an einem Scheideweg, Kamura. Die Entscheidung, die du triffst, wird nicht nur dein Schicksal, sondern auch das von vielen anderen beeinflussen.«
Plötzlich loderten Yagas Augen mit einer solch schieren Kraft auf, dass es Taoh sofort aus seiner Benommenheit riss und er so gewaltvoll zurückschreckte, dass er beinahe hintenüberkippte. Währenddessen zwang sie Kamura dazu, sofort den Blickkontakt abzubrechen, um den stechenden Schmerz in seinen Augen zu meiden und eine befürchtete Erblindung zu vermeiden.
Der Raum erhellte sich in einem pulsierenden Blitz, entfesselt durch die gleichfalls erwachte Kristallkugel, die unheilvolle Schatten an die Wände warf, wie flüsternde Geister aus einer anderen Welt.
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, entwich Taoh ein kurzer Aufschrei der Furcht, während Kamura in der Kugel kurz Bewegungen erhaschte, die Yaga in höchster Konzentration fixiert hatte – mit einem Blick, der das materielle Plateau verließ.