Die Tiefen des Duats
Der Pfad, den sie gingen, führte unweigerlich zurück in ihre alte Heimat, dem Duat. Ein seltsamer Ort, der in Taoh sowohl schmerzhafte Erinnerungen als auch Nostalgie weckte; vertraut, doch von einer fremden Aura durchdrungen.
Der beißende Geruch unzähliger Speisen vermischte sich mit der feuchten Luft, während das phosphoreszierende Moos der Mittelstadt kaum noch durch den dichten Dunst drang. Ohne Kamura wäre Taoh verloren gewesen, nur ein weiterer Schatten in den endlosen Gängen des Duat.
Die Gassen wurden enger, die Luft immer drückender, und der Weg, den sie nahmen, wand sich unendlich und verworren. Doch Kamura, geleitet von einer inneren Karte, führte unfehlbar weiter, sein Schritt fest und zielgerichtet.
Die düstere Atmosphäre und die Nähe zu seinem Bruder überwältigten Taoh. Eine finstere Aura umgab sie, nicht nur die physische Dunkelheit des Ortes, sondern auch die Geheimnisse, die Kamura vor ihm verbarg. Dennoch fühlte Taoh eine tiefe Verbundenheit zu seinem Bruder, eine unerschütterliche Verbindung durch Dunkelheit und Licht.
Taoh erinnerte sich an ihren einstigen Unterschlupf – ein bescheidenes Refugium, in den Fels gehauen, kaum mehr als eine Höhle mit einer Tür, verloren unter vielen anderen.
»Wie kommt es, dass du dich hier so gut auskennst? Abgesehen vom Pfad zur Grundbildung war mir doch der Schritt vor die Tür verwehrt. Du hattest deine Grundbildung doch kaum abgeschlossen, als wir fortzogen. Oder bist du in der Zwischenzeit hierher zurückgekehrt?« fragte Taoh, mehr in Gedanken als erwartungsvoll, während ihr Weg nun steil abwärts führte, als sei dieses Labyrinth von titanischer Hand geschaffen.
»Du warst aus denselben Gründen stets zu Hause, aus denen du den Basar meiden solltest – doch birgt der Duat weit größere Gefahren. Die dunklen Gassen sind ein Hort für Schandtaten, die im Verborgenen gedeihen. Hier finden jene mit dunkler Aura Zuflucht, unsichtbar für die wenigen, die hinabsteigen. Nicht jeder sehnt sich danach, ein Zu-Kur zu werden, verstehst du?«
Taoh bemerkte das Ausweichmanöver seines Bruders nicht. Sein Interesse war bereits auf das nächste Mysterium gerichtet: »Ja, aber die mit dunklen Seelen, sie können doch nicht ewig hier unten bleiben! Sich verstecken ... es stinkt, es ist dunkel und hier passiert nichts!«
»Kennst du noch die alte Yaga, bei der wir nach Atlans Tod oft waren, um seinen Körper zu finden, damit Bakara ihn zurückbringen kann?« sprach Kamura, nun in gedämpftem Ton.
»Ja, die alte Hexe meinst du?«, erwiderte Taoh.
»Genau die ... sie macht solche Dinge! Ich weiß nicht, was und wie. Aber sie kann es! Sie entfernt es ... nichts, worüber jemand wie du sich Gedanken machen müsste, Taoh. Dein Herz ist rein.«
Sie bogen in noch schmalere Gassen ab, und die Kälte kroch langsam in Taohs Glieder.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie kalt Atlan gewesen sein muss, wenn der Duat schon so kalt ist«, sagte Taoh unüberlegt. Kamura blieb stehen, seinen Blick fest auf Taoh gerichtet.
»Hör zu, Taoh. Was mit Atlan passiert ist, ist tragisch. Aber am Ende war es seine Entscheidung. Du weißt, wie er war. Er wäre hier nicht glücklich geworden«, sprach er nun mit brüchiger Stimme.
»Aber warum waren wir nicht genug für ihn? Wäre er einfach bei uns geblieben, in Sicherheit. Wir hatten doch immer so viel Spaß zusammen! Hatte er keinen Spaß? War das alles nur gespielt, dass er mich lieb ...« Taohs Kehle brannte, gefüllt mit Tränen, die er zurückzuhalten versuchte.
»Es ist verständlich, dass du so denkst, Taoh. Ich kenne die Antwort nicht. Auch ich muss mich dem stellen. Meine Kymatik wird täglich stärker, obwohl ich keine Ausbildung bekomme. Bald werden sie mein Geheimnis kennen. Dann kann ich nicht mehr über den Markt gehen.
Die Auranen werden spüren, dass ein Kymist in der Nähe ist, und meine Anwesenheit wird sie direkt zu mir führen. Auch ich muss mich fragen: Möchte ich bei euch bleiben, ein Kymist werden und für die Stadt arbeiten?
Wir könnten in fünf Jahren in der Oberstadt, vielleicht im Zentrum wohnen. Handel wäre dann Ehrensache, kein Überlebenskampf mehr.
Doch es hat seinen Preis:
Ich werde gläsern sein. Sie werden regelmäßig meine Erinnerungen prüfen. Ich werde ihre Befehle ausführen, und sie werden wissen, wenn ich es nicht tue. Beim blauen Teufel, sie werden wissen, wenn ich nur daran denke, es nicht zu tun. Nach allem, was ich gesehen habe, tun sie das Beste für die Stadt. Aber nicht immer das Richtige für die Menschen. Sie tun, was getan werden muss. Oder besser, was die Elite ihnen sagt, was getan werden muss. Ich weiß nicht, ob ich das kann ...
Ich möchte das Richtige tun. Aber heißt das, dass ich hier unten im Duat leben muss, versteckt wie Yaga? Oder habe ich die Freiheit, als Zu-Kur zu leben, wie ich es für richtig halte – aber verliere euch? Es ist nicht einfach, kleiner Bruder. Für Atlan war es das auch nicht.«
»Aber Atlan war kein Kymist!«, entgegnete Taoh unbeholfen.
»Atlan wurde von einer anderen Kraft getrieben. Eine, die vielleicht stärker als Kymatik ist ...« sprach Kamura geheimnisvoll.
»Und was soll das sein?«, fragte Taoh herausfordernd.
»Der absolute Wille zur Wahrheit!«
Unbefriedigt und doch ermüdet von dem Gespräch, gab sich Taoh vorerst geschlagen. Er verstand oft die vielschichtigen Antworten seines Bruders nicht. Kamura schien von einer Quelle des Wissens zu zehren, die Taoh fremd war.
Es kränkte ihn zusätzlich, dass er bald vielleicht auch seinen zweiten Bruder verlieren könnte. Kamura, der seinen kleinen Bruder aus dem Augenwinkel beobachtete, lächelte nun schelmisch, während er Taohs Hand nahm:
»Keine Sorge, Taoh, so schnell wirst du mich nicht los! Jemand muss dich doch jeden Morgen aus den Fängen des Traumwandlers befreien – sonst kommst du ja nie aus dem Bett!«
Die bewohnten Felswände neigten sich nun so hoch, dass Taoh die Höhe durch den Nebel nicht abschätzen konnte. Allmählich verflachte der Weg, und der Boden unter ihren Füßen ebnete sich. Da waren sie: in der Unterwelt der Unterwelt.
»Schau am besten niemanden an. Am besten schaust du einfach auf den Boden. Das kennst du ja noch, oder?« mahnte Kamura seinen Bruder, seine Stimme schwer vor Ernst.
Doch Taoh, getrieben von Neugier, ließ seinen Blick bereits schweifen, gierig darauf, jeden Winkel dieser verbotenen Welt zu erkunden. Was er fand, war jedoch nicht das, was er erwartet hatte.
Die Gassen des Duats waren verlassen und still, als hätte das Leben selbst diesen Ort gemieden. Die wenigen Gestalten, die durch das schummrige Licht huschten, schienen in Eile, als flöhen sie vor etwas – oder jemandem.
Der Boden war übersät mit Pfützen, die im fahlen Licht glitzerten, während kalter Nebel wie ein bösartiger Schleier durch die engen Gassen kroch, die Sicht verschleiernd und jeden Schritt in Unsicherheit tauchend. Bisweilen drang der säuerliche Geruch menschlicher Notdurft durch die kalte Luft, ein stummer Vorbote der Verzweiflung, die hier regierte.
Der Duat, dieses von Menschenhand geschaffene Labyrinth, grub sich wie eine Narbe in das Herz der Höhlenstadt, eine Wunde, die sich steil und erbarmungslos in die Tiefe erstreckte, wo die Wände drohend in die Höhe schossen.
Und doch, in diesem scheinbaren Chaos, in dem sich die Gänge und Wohnstätten bis in die kleinsten Ritzen des Raumes schmiegten, offenbarte sich eine seltsame Ordnung. Jeder Quadratmeter, so eng und begrenzt er auch sein mochte, war erfüllt von Leben. Die Bewohner Narakas hatten diesen Ort mit Zähigkeit und Erfindungsgabe bewohnbar gemacht, die Außenstehende nur in Staunen versetzte. Leuchtende Moose und flackernde Laternen spendeten ein gespenstisches Licht, das stets gegen den Nebel kämpfte.
In der drückenden Enge des Duats offenbarte sich das wahre Wunder: das Leben, das in seinen dunklen Adern floss. Hinter den Felsenquartieren verbarg sich das eigentliche Leben. Stimmen, Lachen, Streit und alltägliche Geräusche hallten aus versteckten Winkeln, Zeugnisse einer dichten Bevölkerung.
Jeder Quadratmeter dieses finsteren Reiches war von Leben erfüllt, geprägt von Zähigkeit und Überlebenswillen. Es war, als seien die Seelen, die hier Zuflucht suchten, im Stein selbst verewigt, ihrem Schicksal ergeben. Enge Gassen und versteckte Winkel erzählten von Generationen, die in Dunkelheit lebten und liebten, ein Netz aus Schicksalen, das die Zeit überdauerte.
»Warum gibt es hier so wenig Leuchtpilze?« durchbrach Taoh die Stille, seine Stimme ein leiser Faden in der Dunkelheit, getragen von kindlicher Neugier und dem Wunsch, diese unterirdische Welt zu ergründen.
»Sie sind da, aber zu schwach, um den Nebel zu durchdringen«, erwiderte Kamura. »Die kalte, feuchte Luft sinkt hinab, selbst die Kristall-Leuchten erreichen diese Tiefen nur schwer ...«
Als Taoh die verwinkelten Behausungen betrachtete, erinnerte er sich an seine Grundbildung und stellte schließlich fest:
»Könntest du nicht einen Schall-Resonator bedienen, wenn du Kymist wirst?« Seine Augen leuchteten vor Neugier und Bewunderung für seinen Bruder.
Kamura, mit einem Ausdruck von Bescheidenheit und Nachdenklichkeit, antwortete: »Dafür müsste ich einer der Besten werden ...« Ein Hauch von Sehnsucht färbte seine Stimme, als kämpfte er gegen die Grenzen seiner Träume.
»Aber du hast Kymatik angewandt, ohne Resonator! Und das ohne Training!«, entgegnete Taoh bewundernd, seine Augen funkelten in der Dunkelheit des Duats.
Eine schwere Stille legte sich zwischen sie, bevor Taoh fortfuhr: »Dann könnten wir einen stehlen und unser eigenes sicheres Dorf bauen. Ist nicht der ganze Duat so entstanden? Dann komme ich mit dir nach draußen!« Seine Stimme war voller Hoffnung, ein zartes Pflänzchen in ihrer öden Realität.
Kamura schüttelte den Kopf, ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Die wüssten es, bevor ich es weiß«, sprach er tief und ernst, die Resignation in seiner Stimme. Sein Blick schweifte in die Ferne, als könnten jene, die solche Macht besaßen, seine Gedanken hören.
»Da vorn müssen wir rein«, sagte Kamura entschlossen und geheimnisvoll zugleich. Er deutete auf eine Ecke, wo Taoh nur Nebel und Dunkelheit sah. In diesem Moment erinnerte sich Taoh an seine erste Frage und lächelte, als er erkannte, wie geschickt sein Bruder ausgewichen war.
»Woher kennst du dich so gut aus im Duat?«, fragte Taoh neugierig und bewundernd.
»Wirst du gleich sehen. Pass auf, dass du nicht ausrutschst. Geh dicht hinter mir und halt dich an mir fest«, erwiderte Kamura, seine Worte wie ein Leitfaden durch die Dunkelheit.
Als sie die äußeren Grenzen der Stadt erreichten, schienen die Wände vor ihnen zu wachsen, beleuchtet von kleinen Lichtpunkten, die wie Sterne funkelten. Kamura führte sie zu einem unscheinbaren Loch in der Wand, gerade breit genug für eine Person. Eine verborgene Pforte, die nur der Wissende fand.
Mit dem ersten Schritt auf die schmale Treppe verschwand schließlich auch die letzte Lichtquelle. Die Dunkelheit umhüllte sie wie ein dichter Mantel, raubte ihre Sinne und Orientierung.
Plötzlich tauchte ein unnatürliches Türkisblau alles um sie herum in gespenstisches Licht; ausgehend von Kamuras Augen. Er hatte seine Kymatik aktiviert. Der Schimmer durchbrach die Dunkelheit und enthüllte den verborgenen Pfad.
»Beim Lichtbringer! Dass du deine Augen so nutzen kannst, ist mir nie eingefallen!« rief Taoh aus, seine Stimme voller Bewunderung.
»Pssst, Taoh. Wir sind immer noch im Duat«, mahnte Kamura leise. »Mein Augenlicht reicht gerade so aus, um nicht zu stolpern. Konzentrier dich. Wir sind fast da.«
Er begann gegen den kalten Fels zu klopfen, ein rhythmisches Geräusch, das in der bedrückenden Stille widerhallte, während sie weitergingen.
Durch die Gänge führend, lenkte Kamura ihren Weg mit methodischem Klopfen. Dunkle Holztüren säumten ihren Pfad, Ausgänge ins Unbekannte, die sorgsam gemieden wurden. Diese Türen schienen in das Nichts zu führen, die Grenze zwischen dem Lebenden und dem Unvorstellbaren. Wer lebte an einem solchen Ort?
Die Stille war allumfassend, verschluckte jedes Geräusch, bevor es entstand. Es war, als durchquerten sie eine Welt der Toten, ein Reich, wo das Leben selbst zu einem fernen Hall verblasste. Keine Bewegung hinter den Türen, nur erdrückende Dunkelheit und Luft, so schwer, dass jeder Atemzug ein Kampf war.
Plötzlich erklang unter Kamuras festem Schlag ein hohles Geräusch, das die Stille wie ein Gewitter durchbrach.
»Da haben wir's. Ich vergesse immer, die Türen zu zählen, während ich versuche, nicht auszurutschen«, sagte er lächelnd, ein fehl am Platz wirkender Ausdruck in der Dunkelheit.
Er klopfte erneut, dieses Mal in einem komplizierten Rhythmus, der ein eigenes Mysterium webte. Nichts geschah. Kamura wartete geduldig, doch nichts änderte sich. Sein Blick verhärtete sich, als hörte er etwas, das Taoh nicht wahrnehmen konnte.
Mit ruhiger Hand griff Kamura in seine Tasche, umfasste etwas und warnte Taoh: »Geh zurück und halte dir die Ohren zu.«
Taoh, der seinen Bruder gut kannte, zögerte nicht. Im nächsten Moment entwich Kamura ein Ton, tief und mächtig, unmöglich für einen so jungen Körper.
Doch er tat es. Dieser Ton war anders als alles, was Taoh je erlebt hatte.
Die Höhle reagierte, vibrierte und bebte, der Druck in der Luft umklammerte Taohs Brustkorb, als wollte er ihm den Atem rauben. Seine Knochen resonierten mit, bebend in tiefer Tonlage.
Ebenso schnell, wie es begonnen hatte, verstummte der Klang.
Der Fels schien sich aufzulösen, und plötzlich starrten sie in indigofarbene Augen, die aus der Dunkelheit hervortraten, als wären sie immer dort gewesen, verborgen vor den Blicken der Unwissenden.