Kamuras Blick war fest und zielgerichtet, doch seine Augen trugen die unauslöschlichen Spuren einer tiefen Melancholie, die selbst der entschlossenste Wille nicht ganz verbergen konnte. Seine dumpfen Schritte hallten durch die engen Korridore, bis sich schließlich eine schmale Öffnung vor ihm auftat.
Er trat hinein, erneut von völliger Dunkelheit umfangen, dieses Mal ohne die Führung seiner leuchtenden Augen. Jeder seiner Schritte, sachte und zögerlich auf dem feuchten Gestein, wurde von einem Rhythmus begleitet, der unheimlich an einen Herzschlag erinnerte. Seine Hand klopfte methodisch an die Wände – mal auf Stein, mal auf morsches Holz – während er im Flüsterton zählte. Plötzlich durchschnitt eine zischende Stimme die Stille.
»Husch, komm schnell herein, mein Ärmster!«
Die Stimme hallte geheimnisvoll und dringend aus einer sich öffnenden Pforte in der Dunkelheit. Lila und tiefes Blau erleuchteten den schmalen Durchgang. Ein blasses Gesicht, gezeichnet von Schmerz und Verzweiflung, erschien. Ein schwerer Duft aus Alkohol und alten Medikamenten mischte sich mit der kühlen Luft des Ganges. »Komm, tritt ein. Setz dich«, sprach die Stimme erneut, dieses Mal sanft und beruhigend.
Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, schritt Kamura über die Schwelle, sein Blick leer und abwesend. Mit der Schwere eines Körpers, der seine Bindung zur Welt verloren hatte, ließ er sich schwer auf einen Stuhl nieder. Sein Blick sank zu Boden.
»Du … du hast es auch gesehen, nicht wahr? Du hast … sicherlich noch viel mehr erblickt! Warum …?« Die Worte entflohen ihm, brüchig und zitternd.
»Ich spüre deinen Schmerz, deine Verwirrung, mein Armer. Wie sehr ich mir wünschte, ich hätte eingreifen können …«, erwiderte Yaga, ihre Stimme durchtränkt mit tiefem Mitgefühl.
»Wie … warum? Du besitzt die Gabe der Sicht, oder? Warst du nicht einst eine Auristin? Die Auristin? Warum hast du uns im Dunkeln gelassen?«, durchbohrte Kamura die Stille.
»Es war bereits geschehen, mein Kind. Nichts hätte es verändert. Ihr hättet lediglich mit panischer Furcht und tiefem Schmerz euren Heimweg angetreten, die Herzen schwer von Sorge. Die Vorahnung der kommenden Tragödie hätte euch keinen Trost gespendet, im Gegenteil. Wir durchschreiten wahrlich düstere Zeiten, Zeiten voller Unwägbarkeiten. Und auch der Duat birgt momentan Gefahren wie nie zuvor, mit all den finsteren Seelen, die das Tor im Chaos durchquert haben. Ihr solltet rasch und sicher nach Hause finden«, sprach Yaga, ihre Worte von beruhigender Entschlossenheit getragen.
»Das hast du einfach so beschlossen? Dass es … nicht unser Recht ist, zu wissen …?« Ein Funke von Zorn blitzte in Kamuras Augen auf, nur um sogleich von einer noch tieferen Ohnmacht und einem erdrückenden Schmerz verschlungen zu werden, während er instinktiv schlucken musste, als wäre seine Kehle gerade einem Würgegriff entkommen.
»Ja, das habe ich, mein Kind … das ist eine der schwersten Bürden, die mit meiner Gabe einhergehen«, sprach Yaga bedauernd. Vor Kamura saß indes das Bild einer besorgten, mitfühlenden Großmutter, jeder Anschein von Härte und Unbeugsamkeit entwichen.
»Mein Wissen und meine Dienste gehören seit jeher den Menschen. Doch leider ist nicht jedes Wissen ein Dienst an der Menschheit …«, fügte sie hinzu.
Kamura betrachtete sie mit einem scharfen, herausfordernden und dennoch verständnislosen Blick, seine Augenbrauen zynisch gehoben, während er sein Gegenüber eindringlich musterte:
»Was verbergt ihr Alten euch nur immer hinter euren kryptischen Formulierungen?« spottete Kamura »Ihr flüchtet euch hinter sie, wiederholt sie endlos, bis ihr selbst beginnt, ihnen Glauben zu schenken. Ihr verdreht sie so lange, bis ihr selbst den Überblick verliert, was ihr eigentlich tut und warum. Bis eure Worte letztlich eure Taten lenken, anstatt sie zu erläutern … genauso wie—« Er stockte, schluckte erneut schwer, als ob ein unsichtbares Band seinen Hals zuschnürte.
Yagas Augen, noch immer von tiefer Güte und Treue erfüllt, leuchteten mit tröstender Wärme, die Kamuras aufgewühlte Gefühle ein wenig zur Ruhe brachte.
»Du sagst Wahres. Aber bedenke, wenn wir umgekehrt nur sprechen, um zu erklären, was erklärt dann unsere Taten?«
Kamura fixierte sie mit einem Blick, so voller Leid und Trauer, dass sein Gesicht Bände der Antwort offenbarte. Eine Atmosphäre des Schweigens hing schwer in der Luft, während sich die beiden in einem stillen Bann des Verständnisses befanden. Ihr Blickkontakt kommunizierte jenseits der Worte. Ein Ozean stiller Emotionen pulsierte zwischen ihnen, fand seltsamen Trost in der Erkenntnis, gemeinsam durch die Dunkelheit zu navigieren.
»Wie ich sehe, trägst du die Kette noch immer?« brach Yaga schließlich die Stille.
»Ich möchte meine Kräfte nicht«, entgegnete Kamura prompt.
»Und du meinst, die Entscheidung genügt, um nicht zu sein, was du bist?« Ihre Stimme trug eine Note der Verwunderung in sich.
»Taoh … er hat irgendwie recht. Jetzt da Aba … es ist es nicht wert. Was ist ein freies Leben wert, ohne die Menschen, die man liebt? Was nützen Rechtschaffenheit und Heldentum, wenn die Welt von den gebrachten Opfern nichts weiß und ein Ort der Grausamkeit bleibt? Es fühlt sich an, als opferten sich die Guten für das Fortbestehen einer bösen Welt … Aber was bleibt übrig, wenn alle Guten fort sind?« Mit Tränen in den Augen richtete Kamura seine Frage an Yaga.
»Hältst du den Jungen für böse?«
Yagas Antwort kam mit einem Blick voller Aufrichtigkeit, der zum ersten Mal Unsicherheit offenbarte.
»Darum geht es nicht. Es geht darum, warum der Junge überhaupt erst dort lag! Und das wird es wieder geben. Und wieder. Niemand wird sich für den Jungen interessieren. Und niemand für Aba. Es geht einfach weiter!«, sagte Kamura erzürnt.
»Ich hoffe doch schwer, dass sich jemand für deinen Aba interessiert«, sprach Yaga in liebevoller Mahnung. »Und das Schicksal des Jungen bleibt ungewiss. Ihm mögen noch viele Jahre bevorstehen. Vielleicht gründet auch er eines Tages eine Familie. Vielleicht wirst gerade du dich für ihn interessieren—« Sie brach ab, getroffen von Kamuras vorwurfsvollem Blick und hielt einen Moment inne, um ihre nächsten Worte sorgfältig zu wählen.
»Ich verstehe deinen Schmerz, Kamura, und deinen Zorn«, fuhr sie fort, ihre Stimme in gewohnter Bestimmtheit. »Und ja, du hast recht über das Dunkle unserer Welt, doch etwas unterscheidet diesen Moment von allem bisher Dagewesenen. Was treibt Ghouls so dicht an die Pforten unserer Stadt? Dies ist kein gewöhnliches Werk von Kinderräubern oder Banditen. Vor den Toren habe ich sie gesehen – ganze Scharen an Ghouls, Höhlensirenen, Willensdiebe, Stimmenschlächter und Seelenbinder. Ihre Präsenz ist kein Zufall; sie agieren mit erschreckender Präzision und Taktik.«
Ihre Augen funkelten im schummrigen Licht des Raumes, als sie Kamura direkt ansah.
»Dies ist keine Zeit für Verzweiflung, Kamura. Dies ist eine Zeit, in der wir alle, die das Licht in sich tragen, zusammenstehen müssen. Es ist eine Zeit, in der deine Stärke, dein Mut und dein Herz mehr denn je benötigt werden. Vielleicht fühlst du dich nicht bereit, ein Kymist zu sein, aber deine Fähigkeiten, deine Leidenschaft für jene, die du liebst, und dein Wille, für das Gute zu kämpfen, machen dich bereits zu einem unter Hunderten. Die Höhle ist voll höriger, ignoranter und schwacher Geister und einige davon mit entschieden zu viel Macht, als der Welt guttut …«
»Ich will kein Kymist werden. Ich will keinen Reichtum. Ich will keine Freiheit. Ich will Aba zurück! Und Atlan!«, klagte Kamura nun gänzlich offen weinend.
Yaga lehnte sich betroffen vor, ihre Augen spiegelten einen Ozean an Erfahrung und Mitgefühl wider.
»Kamura, das Verlangen, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, ist ein Wunsch, so alt wie die Zeit selbst. Doch er birgt eine Wahrheit, die wir oftmals übersehen: In unserem Schmerz, in der Vergänglichkeit, in unserem Verlust, finden wir die Tiefe unseres Wesens. Es sind diese Prüfungen, die uns lehren, was es wirklich bedeutet, zu lieben, zu hoffen, und letztlich, was es heißt, menschlich zu sein. Sie schenken uns den Wert der Einzigartigkeit einer jeden Begegnung, eines jeden Augenblicks.«
Kamura sah auf, seine Augen suchten nach einem Anker in der Weisheit ihrer Worte. »Aber was ist der Wert dieser Menschlichkeit, Yaga, wenn sie uns nur zu Verlust und Leid führt? Ist es nicht grausam, gebunden zu sein an ein Herz, das nur brechen kann? Ein Herz, das umso mehr leiden wird, je mehr es geliebt hat?«
»Vielleicht«, entgegnete Yaga nachdenklich, »aber bedenke, dass gerade in der Zerbrechlichkeit des Herzens seine größte Stärke liegt. Es ist die Fähigkeit, trotz des Schmerzes zu lieben, die Hoffnung in der tiefsten Dunkelheit zu finden, die uns wahrhaft menschlich macht. Es ist unser verzweifelter Versuch, den Bruch des Herzens zu vermeiden, der uns aus Liebe all jene Helden- und Schandtaten vollziehen lässt, die uns zu dem machen, was wir sind und unser Innerstes offenbaren. Dein Schmerz, Kamura, ist der Beweis deiner Liebe – eine Liebe, die über den Tod hinausreicht. Es ist diese Liebe, die uns die Kraft gibt, weiterzumachen, zu kämpfen, selbst in den dunkelsten Zeiten. Und es ist nun an dir zu entscheiden, wie diese Liebe und ihr Schmerz dich verändern werden. Denn der einzige Weg aus dem Schmerz ist stets die Veränderung.«
»Doch wie kämpfen wir gegen eine Dunkelheit, die zu verschlingen scheint, was uns am liebsten ist? Und wenn alles verloren ist, wie werde ich nicht selbst zu ebendieser Dunkelheit?« flüsterte Kamura, seine Stimme brüchig vor Emotion.
»Indem wir uns an das Licht in uns selbst halten und uns derer erinnern, die Platz in unserem Herzen fanden – ob lebendig oder tot«, antwortete Yaga mit fester Stimme. »Es mag Zeiten geben, in denen dieses Licht zu flackern scheint, doch es darf nie vollständig erlöschen! Es ist unsere Fackel durch die Dunkelheit, unser Widerstand gegen das Vergessen. Und gerade in den dunkelsten Zeiten muss sie weitergereicht werden. Und dieser Akt fordert manchmal schwere Opfer ...«
Kamura nickte langsam, die Worte Yagas sorgten für einen kleinen Funken in der Dunkelheit seiner Gedanken.
»Vielleicht hast du recht, Yaga. Vielleicht ist es das Licht in uns, das zählt, nicht die Dunkelheit, die wir bekämpfen. Aber es ist schwer, dieses Licht zu sehen, wenn alles, was man fühlt, Verlust ist«, sprach er selbstvergessen, während er sich die Tränen mit den Ärmeln vom Gesicht wischte.
»Das ist wahr«, stimmte Yaga zu, »aber erinnere dich, Kamura, dass selbst im tiefsten Verlust die Möglichkeit eines neuen Anfangs liegt. Dein Schmerz heute könnte der Samen sein, aus dem Hoffnung und Erneuerung sprießen. Denn so, wie der Schlaf dem Erwachen weicht, so weicht auch die Dunkelheit dem Licht. Und in jedem Ende liegt ein neuer Beginn.«
In der Stille, die folgte, fanden Kamuras Gedanken einen ruhigen Hafen in Yagas Worten, während sie sich langsam erhob, ihre Bewegungen bedächtig und mit einer Würde, die nur jene besitzen, die viele Jahre des Lebens und des Lernens hinter sich haben. Sie trat zu Kamura, legte tröstend ihre Hand sanft auf seine Schulter.
»Erinnere dich, Kamura«, sagte sie mit einer Stimme, so sanft wie das Licht, das sie umgab, »dass du nie allein bist. Selbst in den dunkelsten Nächten, wenngleich der Schmerz am größten scheint, gibt es jene, die neben dir stehen. Deine Liebe zu Eladan und Atlan, sie bindet dich nicht nur an die Vergangenheit, sondern sie führt dich auch in die Zukunft. Sie ist dein Licht, dein Kompass in dieser Dunkelheit.«
In der schwebenden Stille, die ihren Austausch von Gedanken und Emotionen umhüllte, stand Kamura langsam auf, jede Bewegung durchdrungen von der neu entfachten Entschlossenheit in seinem Herzen.
Er verharrte einen Moment lang, blickte Yaga tief in die Augen – jene unendlichen Pools der Weisheit und Güte, die ihm in seiner dunkelsten Stunde Trost und Orientierung geboten hatten.
»Danke, Yaga«, sagte er, seine Stimme gefestigt durch die Resonanz ihrer gemeinsamen Erkenntnisse, »für das Licht, das du in meiner Dunkelheit entzündet hast.«
Yaga nickte ihm zu, ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, ein Spiegel der Hoffnung, die sie ihm schenkte. »Geh nun, Kamura«, ermutigte sie ihn, ihre Stimme warm und beruhigend. »Du wirst mich in diesen turbulenten Zeiten hier vorerst nicht mehr antreffen. Doch ich werde mich dir bald wieder zeigen. Und vergiss nie, dass selbst der kleinste Funke in der Dunkelheit den Weg weisen kann.«
Mit diesen Worten schritt Kamura zur Tür, sein Herz bedrückt und doch auf seltsame Weise leichter als zuvor. Als er die Schwelle überschritt, warf er einen letzten Blick auf Yaga, deren Gestalt im sanften Schimmern leuchtete, wie eine Fackel der Hoffnung inmitten der Dunkelheit.