In einem schlagartigen Aufblitzen der Ewigkeit, wo selbst das Licht zu einem Flüstern erstirbt, fand er sich unvermittelt aus dem Nichts gerissen, erwachend im Herzen einer undurchdringlichen Finsternis.
Zunächst war es lediglich die Berührung des kalten, unerschütterlichen Bodens, die ihm die bittersüße Gewissheit seiner Existenz verlieh.
Doch allmählich, als würde er sich aus einem dichten Nebel lösen, begann er, die Feuchtigkeit in der Luft zu spüren, den Widerhall eines Tropfens zu vernehmen, zerschellend auf hartem Gestein.
Er nahm einen tiefen Atemzug, füllte seine Lungen mit der ihn umgebenden Dunkelheit. Mit ihr kamen die ersten aufgewühlten Empfindungen zum Vorschein:
Kälte … Angst … Schmerz!
Sofort zogen unheilvolle Schreie seine Aufmerksamkeit auf sich – verzerrt, wie aus einer zerrissenen Kehle. Leises, gebrochenes Gewimmer, unterbrochen von dumpfen Schritten, die durch die scheinbare Unendlichkeit des Raums widerhallten.
Seine Augen wanderten durch die schemenhaften Konturen seiner Umgebung.
Eines war gewiss:
Im Dunkel war etwas in Bewegung.
Jedes Geräusch ließ ihn zusammenzucken, erfüllte ihn mit der bangen Frage, ob sein Herz im nächsten Moment vor Schreck den Brustkorb sprengen würde.
Unzählige, gierig schmatzende Mäuler, begleitet vom Aufklatschen einer schleimigen Masse – ein Gestank nach Verwesung kroch in ihrer Lunge.
Tastend stieß er auf durchnässten Stoff – der Leib einer Gestalt mit weißem Haar, starr und erkaltet, halb über ihn gewunden wie ein schützender Mantel.
Erst jetzt bemerkte er: Er war nackt.
Er war zurückgelassen worden.
Zurückgelassen … doch … von wem?
Sein Atem wurde flacher. Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, wie Nebel, den er nicht greifen konnte. Was war passiert? Wie war er hierhergekommen? Und wo … wo war er? Und am wichtigsten:
Wer … war er?
Er fokussierte seine volle Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Umgebung. Vielleicht war jemand am Leben? Vielleicht gab es Hinweise, wie er in diesen Albtraum geraten war?
Sein Blick streifte über starr daliegenden Gestalten, jede Einzelne ein stummer Zeuge des Grauens. Ein endloses Meer aus einst prächtigen Trachten, nun jedoch befleckt und durchtränkt von dunklem Sekret.
Kurz darauf traf ihn der Anblick des Unfassbaren mit einer solchen Gewalt, dass er befürchtete, sein Herzschlag würde ihn aus seinem schwachen Körper schleudern.
In beträchtlicher Entfernung zeichneten sich die Umrisse eines gigantischen Wesens ab, dessen glühend rote Augen auf eine winzig wirkende Silhouette gerichtet waren.
Darunter enthüllten sich weitere kleine, blutrote Lichtpunkte. Dutzende, nein, Hunderte schillernde Augen, die alle auf einen einzigen konzentrischen Punkt gerichtet waren.
War etwa er dieses Zentrum?
Können sie … mich sehen?
Und als würde er erhört, durchbrach in diesem Moment plötzlich ein ohrenbetäubender Schrei die Stille – keine fünf Schritte von ihm entfernt. Was mit einem einzigen Schrei begann, vervielfachte sich rasch; zwei wurden zu drei, und bald schon erhob sich eine unzählige Menge an Stimmen zu einer grausigen Symphonie des Entsetzens.
Er war entdeckt worden!
Er musste sich verstecken – sich erneut in dem Meer aus leblosen Körpern verbergen – seinen Kopf unauffällig ablegen! Doch sein unkontrollierbarer Herzschlag durchdrang seinen Leib mit solch gewaltiger Kraft, dass jeder Herzschlag ihn ein paar Fingerbreit hin und her schob.
In einem Akt schierer Verzweiflung ließ er seinen Kopf das letzte Stück auf den kalten Boden fallen und schloss die Augen. Dort lag er, umgeben von den Echos der Schreie und dem unaufhörlichen Pochen seines eigenen Herzens, das in seiner Brust tobte, als wollte es sich einen Weg aus seinem Körper bahnen.
Ich darf nicht zittern! Ich darf mich nicht bewegen. Am besten nicht mal atmen. Jeden Moment werden sie kommen. Ich muss mich erinnern! SOFORT! Was weiß ich?
Ich weiß, dass es kalt ist. Ich weiß, dass mir das gleiche Schicksal bevorsteht, wie all den anderen hier um mich herum, sobald ich entdeckt werde. Ich weiß, dass sie mich finden werden. Ich weiß, dass ich nichts über meine Vergangenheit und mich weiß … Aber ich weiß auch, dass ich gerade denke … Ich denke in der Sprache. Das muss ich gelernt haben. Ich komme also irgendwoher – Doch abrupt wurde er erneut aus seinen Gedanken gerissen, als eine erneute Symphonie des Terrors wie eine Welle durch den unendlichen Raum widerhallte.
Plötzlich erzitterte die Erde unter einem Gewicht, das die Vorstellungskraft sprengte. Die Kreatur, riesenhaft, humanoid, brach aus ihrer Starre und setzte sich in Bewegung – direkt auf ihn zu! Jeder Schritt hallte durch die Unendlichkeit der Finsternis, ein Schlag, der in seinen Knochen widerklang, synchron mit dem wilden Tosen seines Herzschlags.
Die leuchtenden Augen, die bisher in der Dunkelheit gebannt waren, zogen sich zurück, zerstreuten sich wie Sterne, die einem alles verschlingenden Abgrund weichen. Sein Kopf fühlte sich an, als würde er bersten, die Welt zersplittern.
Ein Schimmer erhob sich aus der Dunkelheit, wuchs zu einem pulsierenden Licht, als würde die Welt um ihn herum lebendig werden: eine Höhle. Die Wände, durchzogen von lebendigen Adern, schienen zu atmen, als grün schimmernde Pilze in ihrem Licht aufleuchteten. Er folgte den pulsierenden Adern, erkannte mit Grauen, dass etwas aus dem Gewölbe der Höhlenwand herauswuchs. Es fixierte ihn: ein gigantisches Auge, weit aufgerissen.
Es gab nichts mehr, was er hätte tun können – aber dieser dunkle Albtraum würde nun ein Ende haben. Hoffend auf eine schnelle Erlösung, sein Schicksal akzeptierend, lag er da. Dies musste ein Traum sein. Er würde gleich erwachen … ein tiefer Frieden überkam ihn. Und plötzlich überkam Totenstille den Ort.
War er erlöst? Die Kälte. Der Schmerz. Nein, er war noch immer dort. Nach einigen Augenblicken wagte er es, vorsichtig eines seiner Augen zu öffnen. Im Dunkeln schimmerten noch immer unzählige Augenpaare zurück, während jegliche Bewegung erstarrt war, als hätte die Zeit selbst einen Moment innegehalten. Angst umklammerte sein Herz erneut mit eisernem Griff.
Die Last war unerträglich. Noch einige Augenblicke mehr und sein Herz drohte, aus eigenem Antrieb zu verstummen, ganz ohne fremdes Zutun. Dieser Gedanke verwandelte sich rasch in einen sehnlichen Wunsch, der jedoch unerfüllt in der Schwere des Moments hängen blieb.
Von tiefer Resignation ergriffen, ließ er seinen Blick vom erschreckenden Panorama abgleiten. Ziellos streiften seine Augen durch diese grausame Welt, in der sein einziger Trost ein baldiges Ende sein würde.
Unweit von ihm entfernt zog erneut die Quelle dieser geisterhaften dunkelgrünen Aura, die über allem lag, seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine verführerische Trance – die einzige Flucht, um dem Grauen zu entkommen – sei es auch nur für diesen letzten Moment.
Diese kleinen Ansammlungen leuchtender, grüner Pilze stellten offensichtlich die einzige Lichtquelle in dieser düsteren Umgebung dar. Er ließ seinen Blick in das eigenartige Leuchten, das sie aussandten, versinken und atmete tief durch – nicht bereit für das, was kommen mochte, doch allmählich das Unvermeidliche akzeptierend.
Dort standen sie, jene seltsamen Pilze; sich selbst ihr eigenes Licht. Majestätisch und anmutig trotzten diese grünen Wunder der erdrückenden Dunkelheit und den grotesken Bewohnern dieses Ortes.
Wie stumme Hüter in einem Reich des Schreckens spendeten sie Trost und Licht, gleichsam kleiner Oasen der Hoffnung in einem endlosen Meer aus Verzweiflung und Dunkelheit. Sie wirkten nun auf ihn wie Symbole des Widerstands – ein Beweis dafür, dass selbst im tiefsten Dunkel ein Funken des Lebens, der Schönheit und des Lichts bestehen bleiben kann.
Was ist das nur für ein Ort?
Wie war es möglich, dass diese beiden Welten nebeneinander existieren konnten?
Das grausige Gelage erklang bald auf ein Neues. Knacken, Schmatzen, Grunzen – all dies gelegentlich durchsetzt von entsetzlichem Kreischen, das fast physisch an den Trommelfellen zu zerren vermochte.
Außerstande der übermächtigen Angst entgegenzustehen, fixierte er seinen Blick weiter auf diese heilig wirkenden Wesen, als wären sie Ankerpunkte in einem stürmischen Meer der Furcht. Er klammerte sich an den Anblick der leuchtenden Pilze, um der Versuchung zu widerstehen, sich zu bewegen oder durch die vielen schrecklichen Bilder, die ihn umgaben, in Panik zu verfallen. Diese kleinen Inseln des Lichts dienten ihm als ein Leuchtturm der Hoffnung, der ihm half, sich nicht von der Dunkelheit verschlingen zu lassen.
Er wagte es nicht, seinen Kopf erneut zu erheben, und so verharrte er, lauschend auf die unheilvolle Symphonie dieses grausamen Festmahls.
Stundenlang lag der Junge da, entblößt jeglicher Hoffnung, ohne eine Erklärung für das Geschehene. Vereinzelt erhaschte sein Blick einige der Kreaturen – manche labten sich gierig an den leblosen Körpern am Boden, während andere in weiter Ferne Rufe austauschten.
Über die Stunden hinweg verlor er immer wieder das Bewusstsein. Innerlich hatte er sich längst darauf eingestellt, seinen Körper zu verlassen und diesen merkwürdigen Traum hinter sich zu lassen. Und dann, wie erwartet, ergriff etwas seinen Fuß und zog ihn mit einer unbändigen Kraft zu sich!
Mit einem ohrenbetäubenden Sausen wurde er aus der traumhaften Dunkelheit gerissen, die ihm bis eben noch als einziger betäubender Trost vor seinem scheinbar unvermeidlichen Schicksal gedient hatte.
Er spürte seinen Körper nicht mehr, hörte diesen nur für einen Augenblick über den Boden schleifen. Alles, was ihm blieb, war die Wärme des Wesens, das im Begriff war, ihn zu erlösen. Endlich. Der Boden unter seinen Füßen erzitterte, während Lichter durch die Dunkelheit blitzten. In diesem letzten Augenblick schienen Realität und Traum zu verschmelzen, eine Einheit zu bilden, in der Zeit und Raum ihre Bedeutung verloren.
Er akzeptierte …
Frieden.
Und inmitten dieses Chaos, erfüllt von einer unerwarteten Ruhe, realisierte er, dass dieses Gefühl des Friedens nicht aus seinem Inneren kam, sondern von dem Wesen ausging, das ihn in der Dunkelheit ergriffen hatte.
Nun geschah alles zeitgleich: laute Schreie, ein ohrenbetäubender Knall, bebende Erde und mit letzter Kraft erhaschte der Junge noch einen Blick auf das feuerrote Haar des Wesens, das in der rasanten Bewegung zu fliegen schien, als würde es ihn im Wind davontragen. In diesem Moment verlor er erneut das Bewusstsein …
Als er, von Schmerzen geplagt, erneut zu Bewusstsein kam und die Augen öffnete, blieb seine Sicht weiterhin trüb und verschwommen. Doch in diesem nebelartigen Dämmerzustand, der die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischte, vernahm er leidvolle Klagerufe, die durch die Stille hallten. Es war, als ob diese Klänge aus einer anderen Welt zu ihm drangen, getragen von einem Wind, der sowohl Trost als auch eine unerklärliche Traurigkeit mit sich brachte.
» … er wird es nicht verstehen … Bitte … es muss einen anderen Weg geben … das … das Löwenblut! Wir brechen sofort nach Gehenna auf und holen – «
»Du weißt genau, was das bedeutet«, unterbrach eine ruhige, bestimmte Stimme. »Und welch verdrehte Ironie könnte uns dazu verleiten … nach allem, was wir getan haben? Wovon wir heut Zeuge wurden? Es ist weit schlimmer als alles, was wir uns je vorzustellen vermochten. Und ich werde niemals ein Teil davon sein!«
Die aufgeladene Auseinandersetzung weckte sogleich eine Panik in dem Jungen. Kreisten die Diskussionen um ihn? Welche Pläne schmiedete man hinter seinem Rücken?
Als er versuchte, sich aufzurichten, rebellierte jeder Knochen in seinem Körper, als wäre er zersplittert, überwältigt von unvorstellbarem Schmerz. Nur einer seiner Arme gehorchte noch schwach seinen Befehlen.
Blindlings führte er seine Hand durch die erdrückende Dunkelheit, erst nach links, dann nach rechts – bis seine Finger plötzlich auf etwas Kaltes, Hohles trafen. Es entwischte seinem schwachen Griff und – Klirr – zerbarst in unzählige Scherben auf dem Boden.
Die Stimmen, welche so eben noch klagend durch den benachbarten Raum gewirbelt waren, verstummten schlagartig. Hastige Schritte durchschnitten die Stille, näherten sich mit jeder Sekunde. Er versuchte aufzustehen, zu entfliehen, doch eine Welle unvorstellbarer Pein durchfuhr seinen geschundenen, schwachen Körper auf ein Neues. Flucht war keine Option, nicht ohne Ziel, nicht mit diesem Körper, nicht in dieser Finsternis …
Mit einem Ruck flog die Tür auf. Eine Gestalt trat ein, näherte sich mit dumpfen, schnellen Schritten. Er erkannte lediglich die Umrisse einer Silhouette, die sich mit einer natürlichen Anmut durch die Dunkelheit bewegte, als wäre sie ihr nicht fremd, sondern eigen.
Ein beruhigendes »Hey! Hey, shhhh … alles gut! Du bist sicher!«, durchbrach die Stille. Instinktiv spürte er, dass diese Gestalt zu der Person mit dem feuerroten Haar gehörte, die ihn aus der Gefahr gerettet hatte. Warme Hände, tröstend und sicher, streichelten über seine schweißnasse Stirn.
Die schmerzhafte Erfahrung und die dunkle Bedrohung, die er noch vor Momenten durchlebt hatte, begannen zu verblassen, wichen einer vagen, aber spürbaren Sicherheit. Trotz der Wärme und des Trostes, die von der fremden Retterin ausgingen, verlor er erneut das Bewusstsein.
Die Worte »Alles gut! Du bist sicher!« , hallten wie ein sanftes Versprechen in seinen Ohren nach, ein Leuchtturm der Hoffnung in der umhüllenden Dunkelheit.