Er fühlte seinen Geist unaufhörlich in die Tiefe stürzen, ein gnadenloser Sturz durch die endlose Dunkelheit.

»Alles ist gut … du bist sicher …«, hallte es ein letztes Mal nach – ein flüchtiger Trost, der im Angesicht der Ereignisse immer mehr seine Daseinsberechtigung verlor und schon bald nur noch, wie ein ferner Hall einer längst vergangenen Existenz sein würde. Und kaum vergessen, wandelte sich die Realität bereits erneut, während er vergeblich nach einem Halt zu greifen versuchte.

Kleine Risse in der Finsternis offenbarten flüchtige Einblicke in fremde Welten, fremde Gesichter, fremde Wesen – wie kleine Fenster, an denen er jedoch mit solcher Geschwindigkeit vorbeisauste, dass es ihm unmöglich war, wirklich etwas zu erkennen.

Trotz der Gewissheit eines imminenten Aufschlags, berührte er plötzlich erneut kalten, steinigen Boden, und ein allzu bekannter Schimmer durchzog die Dunkelheit, ohne eine erkennbare Form preiszugeben.

War es wieder jener Raum?

Er wagte einen Schritt. Stille. Dann noch einen. Er keuchte auf. Was ging hier vor? Kurz darauf erhaschte er einen Blick auf eine Wand vor sich, verziert mit Zeichen. Während er diesen Zeichen folgte, bemerkte er, dass ein grüner Schimmer dem Fokus seiner Augen folgte. Noch bevor er sich weiter in das Rätsel vor ihm vertiefen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit jäh von einem Geräusch erfasst:

Ein Atmen in der Dunkelheit, ließ sein Blut in den Adern zu Eis erstarren.

Innerlich bebend tastete er sich die Wände entlang. Suchend, nach einem Ausgang. Das Atmen wurde lauter. Bewegte er sich bereits auf die Quelle zu? Oder kam es etwa … näher?

Er stoppte. Wenn es keinen Ausweg gab, er ohnehin kaum etwas sah, so wäre es besser, ihm zuvorzukommen – was auch immer es war!

Jeder Schlag seines Herzens erzeugte ein Donnern in seinen Ohren, so laut, dass er fürchtete, es müsse seine Position verraten – denn was auch immer da in der Dunkelheit lauerte, es befand sich nun nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.

Plötzlich ein Fehltritt – ein unerwartetes Hindernis, das ihn ins Straucheln brachte. Eine Stufe!?

Vor ihm, kaum wahrnehmbar im schwachen Schimmer des grünen Lichts, offenbarte sich eine Struktur, die zunächst den Eindruck einer hüfthohen Mauer erweckte.

Nein! Etwas weitaus Komplexeres; ein Gefäß. Dort thronte er, ein schwarzer Monolith, gleich einer glühenden Insel in einem Ozean der Schwärze.

Mit jedem seiner Schritte wurde ein Flüstern lauter und schwoll bald zu einem Murmeln an. Als er schließlich den letzten Schritt wagte und den Monolithen erreichte, legte sich Stille über den Raum, so tief und absolut, dass selbst der Klang seines eigenen Atems darin zu verschwinden drohte.

Er wagte einen Blick in das Innere dieser Struktur und ihm stockte der Atem:

Ein unbestimmtes Gefühl, als würde sich tief  im Inneren dieser monolithischen Struktur, etwas regen.

Er lehnte sich vor und wagte einen Blick in diesen Abgrund, der seinen Blick erwiderte. Im schwachen Schimmer begannen sich die schemenhaften Konturen einer Gestalt abzuzeichnen.

War dies ein Grabmal? Ein Sarkophag? Fassungslos beobachtete er, wie sich die Brust des Wesens in unverkennbaren Rhythmus hob und senkte.

Wie war es möglich, dass hier Leben existierte? Wie konnte es in dieser erdrückenden Schwärze überleben? Würde ihm dasselbe rätselhafte Schicksal widerfahren? Oder wurde er gar … beobachtet?

Getrieben von Vorsicht und einer unausweichlichen Neugier streckte er dennoch seine Hand aus und seine Finger berührten eine kühle Haut, die teils von einem dünnen Stoff umhüllt war. Sein Finger ertastete einen anderen – steif, kalt, ein unwiderlegbares Zeichen des Todes!

Und doch, wider jegliche Logik, trotzte dieses Wesen dem Wissen um seinen eigenen Tod und atmete gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Er schreckte zurück, als sein Blick auf die zwei verwitterten Hände fiel, die scheinbar mit letzter Kraft etwas umklammert hatten. Einen rechteckigen Gegenstand, der gegen alle Vernunft pulsierte, in einem Rhythmus, der den Klang eines weit entfernten Herzschlags in sich trug.

Eine Kraft ging davon aus, die ihn näher heranzog, als wären unsichtbare Fäden zwischen ihnen gespannt.

Mit einer Hand, die kurz in der kalten Luft verharrte, als fürchtete er, die kleinste Berührung könne die zerbrechliche Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen zerreißen, griff er danach.

Als seine Haut die raue, kalte Oberfläche berührte, einem Moment, der sich anfühlte, als würden Jahrhunderte zu Atem kommen, geschah es:

Ohne ein Geräusch, das die Stille hätte durchbrechen können, zuckten aus der Finsternis neben ihm zwei Augenpaare auf – weit aufgerissen, glühend vor einer unheimlichen, übernatürlichen Intensität, und die Luft um ihn herum erstarrte.

Diese Augen, alt und doch erfüllt von einer Intensität, die das Fleisch überdauerte, starrten ihn an, durchbohrten ihn mit einem Blick, der gleichzeitig aus tiefster Qual und der Resignation unzähliger Äonen gespeist wurde.

Diese Augen … voll Leid und Qual. Voll Wissen und Trauer. Erfahren und alt.

Unter grauenhaftem Knirschen öffnete sich der Mund. Ein fauliger Geruch strömte ihm entgegen. Er war bereits wie paralysiert. Der Mund öffnete sich unter dem Geräusch reißender Sehnen weiter und nahm schier unmenschliche Züge ein, bis er beinahe das gesamte Gesicht einnahm. Dann stoppte es. Die Augen unverwandt auf ihn gerichtet.

Was zunächst mit einem Ächzen begann, schwoll schnell zu einem schmerzerfüllten Schrei an, der ihn bis ins Mark erschütterte. Der Raum wandelte sich. Oder besser: die Augen des Wesens. Sie nahmen einen hellen Blauton an;  gewannen derart an Leuchtkraft, dass sie die gesamte Kammer mit  Licht fluteten. Noch immer völlig fixiert auf das Schreckenspiel vor ihm, war er außerstande, sich umzusehen, unfähig, zu fliehen.

Ein tiefes Brummen, das selbst seine Knochen in Vibration versetzte. Schwindel setzte ein. Doch der gutturale Schrei nahm kein Ende. Im Gegenteil; er wurde mit jedem Augenblick stärker, bis die Schwingung im Raum es ihm beinahe unmöglich machte, seinen  Körper noch von der Außenwelt zu unterscheiden. Er würde unter dem Druck jeden Augenblick unter lautem Knacken zusammenklappen – doch bevor er diesen Gedanken verarbeiten konnte, wandelte es sich erneut:

Tiefes Lila bohrte sich nun durch die beiden Lichtpunkte in seine Seele. Die Wände rissen, der Boden tat sich auf. Die Schatten brachen  durch die Risse in den Raum.

Pure Verzweiflung durchströmte ihn. Im nächsten Moment wurde er bereits von einer Flut aus Bildern und Emotionen überwältigt.

Zwei Schlangen, sich windend um ihre eigene Achse, herum um einen  Strahl aus Licht;

Ein goldener Pilz, der seine eigene Lichtquelle war, trotzend der umgebenden Finsternis;

Ein Obelisk aus purem Kristall, thronend über einem Meer aus Edelsteinen.

Der Sturm aus Visionen überwältige ihn schließlich völlig, ließ die dunklen Gefilde samt seinem nebligen Geist in sich selbst kollabieren.

Stille kehrte ein. Er stolperte rückwärts, weg von diesem Ding, raus – er musste raus. Die Dunkelheit hatte bereits wieder ihren rechtmäßigen Platz eingenommen.

»Und so bist du also gekommen«, zerschnitt plötzlich eine Stimme die Stille – ein Klang, der gleichzeitig überall und nirgends war, ein Widerhall, der von unsichtbaren Wänden abprallte und doch direkt in der Seele des Jungen widerhallte. Sein Atem stockte. Seine Muskeln wie gefroren.

Verwirrt und orientierungslos richtete sich der Junge auf, sein Herz pochte gegen die Rippen wie ein Vogel, der verzweifelt versuchte, seinem Käfig zu entfliehen.

»Wer … was bist du?«, stammelte er, mit zittriger Stimme.

»Ich bin das, was in den Zwischenräumen der Gedanken verweilt, das Flüstern hinter der Stille, die Macht, die du in deiner tiefsten Verzweiflung zu finden hofftest«, antwortete die Stimme, die Worte umspielten ihn wie ein Windhauch, mal hier, mal dort, ein akustisches Spiel, das ihn vollständig umhüllte. Die Stimme erschien ihm sowohl männlich als auch weiblich, ein symbiotischer Tanz zweier sich überschneidender Frequenzen.

»Ich verstehe nicht. Was geschieht hier? Warum kann ich mich nicht erinnern? Das ist dies hier ein Traum oder …«, seine Stimme brach ab, die Frage selbst erschien ihm so flüchtig wie der Traum selbst.

»Was ist ein Traum, wenn nicht die Reise des Geistes? Und was ist die Realität, wenn nicht ein Traum, der sich manifestiert hat?«, erwiderte die Stimme sanft, während sie gleich einer tiefen Resonanz seine Muskeln erschlaffen ließ.

Er nahm einen tiefen Atemzug. Vielleicht war dies die Gelegenheit! Er musste die richtigen Fragen stellen. Für einen Moment wanderten seine Augen durch die Dunkelheit.

»Wer liegt in diesem Sarkophag? Ist er tot?«, fragte er schließlich.

»Er ist du, er ist ich. Er ist das Schicksal aller am Ende ihrer Reise. Er verweilt an der Schwelle des Seins und Nichtseins, der Wächter des Rades, das unzählige Seelen durch das Fleisch zum Geist trägt und wieder zurück. Das Fleisch, dem Geiste entflohen. Der Ouroboros, die kosmische Schlange, die sich stets selbst verzehrt und dabei stetig wächst. Das Leben selbst, denn ihm sind sowohl Sein als auch Nichtsein eigen.«

Der Junge schluckte schwer, bemüht, die verschleierten Hinweise zu entwirren, die tiefe Bedeutung hinter den Worten zu erfassen.

Unbefriedigt von der Antwort, überkam ihn schnell eine neue, vielleicht bessere Frage:

»Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen?«

»Dein Pfad ist beschwerlich, einzigartig in seiner Natur, deine Bestimmung jenseits jeglicher menschlicher Vorstellung. Deine Reise führt durch Schatten, dunkler als die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele, ein Tanz mit dem Kosmos im ewigen Spiel von Licht und Schatten.«

Ein verzweifelter und verkrampfter Lacher entfloh dem Jungen ungewollt, bei der bittersüßen Ironie dieser Worte.

»War das alles eben nicht schon dunkel genug?« Entgegnete er. »Was wird hier gespielt? Warum bin ich hier? Und wie komme ich hier raus?«

In der undurchdringlichen Dunkelheit, die ihn umhüllte, klang die Stimme erneut, dieses Mal mit einer Tiefe und Resonanz, die bis ins Mark vordrang.

»Du erfüllst alle Voraussetzungen für die Initiation. Denn du bist so leer und unbeschrieben, wie ein menschliches Wesen nur sein kann. Was dir bevorsteht, wird jede Faser deines Seins durchdringen, jeden verborgenen Winkel deiner Existenz bis zum letzten Quäntchen erfüllen – und dennoch droht es, die Fragilität deines Daseins zu zersprengen. Suche also nicht weiter hinter dir nach etwas, was ein Wesen wie du unmöglich besitzen kann. Akzeptiere dein Unwissen und schreite voran.«

Die Stimme hielt inne, gab dem Jungen einen Augenblick, um das Gewicht ihrer Worte zu verarbeiten. »Vergiss nie: Selbst in der grenzenlosen Leere, in der Dunkelheit, die alles zu verschlingen droht, existiert stets ein Lichtfunken. Ein Funke von Hoffnung, so winzig und dennoch so mächtig wie der allerletzte Atemzug unseres Universums, der alles ins Dasein rief.«

Die Worte der Stimme, so unendlich mystisch, ließen den Jungen in stiller Ehrfurcht zurück.

»Aber wie soll ich das nicht vergessen, wenn ich mich an meine Träume nicht erinnern kann?« Die Frage sprang prompt und unverhohlen von seinen Lippen, hoffend, das Gespräch ein wenig in die Länge zu ziehen, mehr zu erfahren!

»Nichts, was deinen Geist erfüllt, geht jemals verloren«, entgegnete die Stimme mit einer ruhevollen Kraft, die den Raum zwischen Welten zu überbrücken vermochte. »Doch gleich einem dürstenden Blinden, der dem Klang einer sprudelnden Quelle folgt, so wirst auch du geleitet, um die Erkenntnis durch deine trockene, dürstende Kehle fließen zu lassen. Diese Quelle in dir umfasst alles, was du warst, bist und sein wirst – sie ist deine unverkennbare Essenz, die niemals versiegt.

Solange deine Seele diesen Durst verspürt, vertraue darauf: Du schreitest voran auf dem Pfad der Meisterschaft und zehrst von der unerschöpflichen Quelle. Die Erkenntnis deiner Unwissenheit wird dein schützender Schild sein, ein Bollwerk gegen die Verblendung, die den unvorbereiteten Seelen das Augenlicht raubt, ohne dass sie es je bemerken könnten.

Doch dein Pfad ist weit mehr als eine Reise der Akkumulation: Es ist eine Reise der Transmutation. Jeder Schritt, geleitet von der unerschöpflichen Quelle innerer Weisheit, führt tiefer in das Labyrinth der Existenz und somit aus ihm heraus. Also vergiss nun, um dich der Quelle zu erinnern.«

»Und was soll ich dann tun?«

 Seine Worte waren ein Flüstern, ein Hauch von Unsicherheit in der unendlichen Stille, die ihn umgab.

»Du weißt, was zu tun ist«, antwortete die Stimme, ein Anker in der wirbelnden See der Emotionen, die ihn umspülten.

»Du musst jedoch erst das Ganze verstehen, bevor du den Einzelnen retten kannst. Deine Reise beginnt wie jede, mit dem Rad der Vorsehung. Lerne und schreite voran, und wenn die Zeit reif ist, wirst du dich an diesem Ort wiederfinden. Die Geistigkeit allen Seins ist dein Führer. Alles, was möglich ist, wird eintreten!«

Mit diesen Worten verhallte die Stimme, hinterließ den Jungen in einem Zustand tiefster Kontemplation. Diese Worte erschienen ihm nicht wie eine bloße Anleitung; sie schienen ihm ein Vermächtnis zu sein, eine Übertragung von Wissen, das so alt war wie die Zeit selbst. Ein Wissen gekleidet in Worten, das dennoch nicht in Worten ausgedrückt oder durch den Verstand erfasst werden konnte.

So stand er da, ein Wanderer an der Schwelle zu Welten, die noch zu erkunden waren, in Ehrfurcht, das Vermächtnis antreten zu müssen, das ihm übergeben worden war. Was sollte dies alles bedeuten? In die Tiefen seines eigenen Geistes zu tauchen, um eine Quelle zu finden, die in ihm sprudelte. Vielleicht die Essenz dessen, was es bedeutet, ein bewusstes endliches Wesen in einem unendlichen Kosmos zu sein?

Mit nichts als der Leere in sich, die wie eine sanfte Einladung zur Füllung war, und der Erkenntnis seiner eigenen Unwissenheit als Schild, fühlte er instinktiv, was sein nächster Schritt sein musste.

Langsam, mit einer ehrfurchtsvollen Vorsicht, bewegte er sich in die Finsternis. Dann trat er auf den Sarkophag zu, seine Hände zögerlich ausgestreckt. Er war sich der möglichen Konsequenzen bewusst, die seine Handlung nach sich ziehen könnte; die Erweckung des Wesens, das innerhalb dieser steinernen Ruhestätte geborgen lag.

Als er seine zittrigen Hände ausstreckte, schienen sie in der Dunkelheit des Inneren dieses Sarkophags fast zu verschwinden. Schließlich ertasteten sie etwas. Kalte Haut, umhüllt von Tuch. Steife Finger und schließlich – ein schlagendes, pumpendes Herz. Doch dieses Herz schlug nicht aus der Brust des Wesens. Er berührte den Gegenstand, den es hielt – der Gegenstand war von pumpenden Adern durchzogen. War dies … ein Buch?

Plötzlich durchführte ihn eine Welle der Energie. Ein pulsierendes Leben, das durch seine eigenen Adern strömte, wie das erste Aufblitzen des Morgens nach einer endlosen Nacht. Ein Moment der Reinheit, in dem Zeit und Raum zu verblassen scheinen, und in dem er sich tief mit dem Gewebe des Universums verbunden fühlt.

Er ist.

In diesem Augenblick der Stille und der Verbindung rissen schließlich die zwei Augen in der Dunkelheit neben ihm auf – ein leuchtendes Grün, das in der Schwärze schimmerte. Sie waren erfüllt von einem Schmerz so tief und allumfassend, dass es ihn erneut bis ins Mark erschütterte. Auf diesen Anblick gab es keine Vorbereitung.

Panik durchflutete ihn. Das Gefühl der Einheit war nun nichts mehr als ein entfernter Traum. Diese Augen, leidend und voller Agonie, trugen Jahrhunderte der Qual und des Verständnisses in sich – ein stummes Zeugnis von Leid, das über die Grenzen der Zeit hinaus Bestand hatte – ein Leid, welches über jenes eines Opfers weit hinaus ging.

Doch pechschwarzer Nebel legte sich wie ein Schleier zwischen die beiden Unglücklichen. Und geistige Umnachtung führte ihn schon bald zu einer noch tieferen Dunkelheit. Ein Hafen des Friedens, in dem sein Bewusstsein keinen Bestand haben konnte.