Im unsterblichen Zwielicht seiner unterirdischen Welt verwandelte sich Taohs finstere Traumreise in ein sanftes Erwachen. Eine Berührung seines Bruders riss Taoh aus seinen Träumen.
Ewiges Zwielicht
»Eluma! Aufwachen, Taoh, es ist Zeit. Das Essen wartet. Du weißt doch, was heute ist?«, mahnte Kamura ihn mit einem Lächeln. Für Taoh war dies eine tröstende Melodie in der stillen Dämmerung. Noch verfangen im Schlaf, seufzte er – eine morgendliche Begrüßung ... zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.
Die leuchtenden Grüntöne, das tiefe Blau sowie das Violett und Rot der umgebenden Lumiflora warfen ein spektralfarbenes Licht auf das Gesicht seines großen Bruders, das nahtlos in seine schlauen, durchdringenden türkisblauen Augen überging. Diese Augen – ein leuchtendes Zeichen der Kymisten und Vorbote einer großen Bestimmung in Naraka.
Er saß bereits an seinem Bettrand, die vielen verwobenen Stränge seines langen dunklen Haars zu einem Zopf bindend, während sein Blick, gefüllt mit der gewohnten Tiefe und Konzentration, durch das Fenster in die Ferne schweifte. Seine Bewegungen waren bedächtig, jeder Handgriff ein weiterer Schritt in der täglichen Zeremonie der Vorbereitung. Mit einer geschmeidigen Bewegung warf er sich seinen Mantel über, ein Meisterwerk handgestickter Kunst, dessen wilde Muster aus Blau und Grün nicht nur die Augen, sondern auch die Gedanken Taohs immer wieder auf die Probe stellten. Konnten in diesen verschlungenen Formen etwa die geheimen, mystischen Formeln verborgen sein, die Kamura seiner unvergleichlichen Lebenskunst verliehen?
Taohs Augen, die ein tiefes, ausdrucksstarkes Braun offenbarten, funkelten bei diesem Anblick fast ebenso stark – erfüllt mit jener Klarheit, die jedes Mal aufflammte, wenn er seinen talentierten großen Bruder sah. Könnte er eines Tages ebenfalls solch eine innere Stärke haben? Oder vielleicht sogar in etwas so gut werden wie Kamura?
Gähnend strich sich Taoh bei diesen Gedanken ein paar Strähnen seines kurzen kastanienbraunen Haars zurecht und streckte alles von sich. Noch halb im Schlaf, kullerte er vom Bett, bis er mit einem dumpfen Geräusch auf allen Vieren auf dem nachgebenden Boden landete. Er schnappte sich seinen Mantel vom Nachttisch, der wie in den Raum verwachsen schien – ebenso wie alle anderen Möbelstücke in ihrem Heim.
Taohs Bett, im Vergleich zu Kamuras, war ein Meisterwerk organischer Architektur, in welchem sich darüber luftreinigende Moose und kleine Pilze befanden, deren Sporen ein sanftes, heilendes Aroma in die Luft freisetzten. Es war mehr als ein Schlafplatz; es war ein Kokon der Regeneration, der Körper und Seele in Einklang brachte. Und dennoch: Heute Morgen fühlte er sich, als hätte er sich nie zu Bette gelegt – schlimmer noch: Als wäre er die ganze Nacht über ohne Einhalt gesprintet.
Der gesamte Raum war erleuchtet von kleinen, tanzenden Käfern, Lichtmoosen, Leuchtpilzen und schimmernden Kristallen, die das Licht in farbenfrohen Mustern brachen.
Dieser Tag sollte bedeutsam werden. Mit zwölf Jahren stand Taoh vor einem neuen Kapitel seines Lebens. Heute würde er die Chance haben, aus Kamuras Schatten zu treten, den Markt zu besuchen und seinen Beitrag zur Familie zu leisten. Vielleicht war dies der erste Schritt, seine eigenen Legenden zu schaffen.
Ihr Heim, im dritten Stock eines ausgehöhlten Titanenpilzes, war eine Verschmelzung von Natur und Pflege – ein Symbol des Familienfleißes. Noch vor einem Jahr lebten sie in den erstickenden Gassen des Duats, dem düstersten Viertel von Naraka, einem Zufluchtsort der Unglücklichen.
Aus dem Fenster drangen die Laute spielender Kinder durch den Raum. Dieser Anblick befremdete Taoh. Etwas an ihm war anders. Er verspürte kein Verlangen, seine Stimme in diesen Chor der Ausgelassenheit einzubringen. Noch in Gedanken an die Bilder der letzten Nacht zog er sich hastig an und eilte in die Küche.
»Eluma, Taoh! Sieht aus, als hätte der Traumfänger dich erwischt!« rief die tiefe Stimme seines Vaters, mit einem fast melodischen Ruf, der sich kraftvoll aus der Küche erhob und fast gespenstisch wirkte, da er selbst kaum durch den Dampf, der von seiner Pfanne aufstieg, zu erkennen war. Mit jedem Schritt zeichnete sich mehr von seiner massiven Statur ab, wie ein Berg inmitten eines nebligen Tals.
Die Luft war erfüllt vom süßlichen Aroma der Pilze, doch Eladan schaffte es immer, neue Geschmacksnoten aus den immer gleichen Zutaten zu zaubern. Wie gewohnt stand er mit ernstem, konzentriertem Gesichtsausdruck da, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, als müsste er jeden einzelnen der Pilze zur Perfektion anbraten - was ihm meist auch gelang!
Taoh nahm am rustikalen Holztisch Platz, dessen Oberfläche liebevoll mit kunstvollen Pilzmotiven verziert war – ein stummer Beweis der handwerklichen Kunst ihrer Mutter und der tiefen Verbundenheit mit der Natur, die ihre Familie auszeichnete.
Noch benommen rieb er sich den Schlaf aus den Augen, als wollte er die Träume der letzten Nacht vertreiben. Ein leises: »Ich wünschte, es wäre nicht so ...« entfloh ihm unbewusst.
Die Morgenluft, die zuvor sanft durch die Fenster strich, verdichtete sich.
»Oh ... war es wieder ... 'Der Traum'?« Sein Tonfall trug eine Dringlichkeit in sich, die keinen Raum für Ausweichmanöver ließ.
Taoh, im Mittelpunkt der unerwarteten Aufmerksamkeit, spürte, wie die Atmosphäre sich wandelte.
In dem Bestreben, beiden ein weiteres ausschweifendes Gespräch über die Abgründe der Seele und den Wert des Vertrauens zu ersparen, gab Taoh ein abweisendes Handzeichen, den Blickkontakt meidend.
»Nee, nicht dieser ... nur spät eingeschlafen! Ich war zu aufgeregt wegen heute«, schlichtete er schließlich.
Doch Eladans Augen verharrten unverwandt auf ihm, während sich die Sorge bereits zu tiefen Falten in sein Gesicht legte. In seinem Blick lag eine stumme Frage, eine Prüfung, die mehr als nur Worte erforderte.
Er holte bereits Luft, bereit, für einen weiteren ermunternden Versuch – doch als Taoh ablenkend einwarf: »Das Essen, Aba ...«, türmten sich hinter Eladan bedrohlich dunkle Rauchschwaden, entfachten ein unerwartetes Chaos.
»Beim blauen Teufel noch eins!«, fluchte Eladan und begann hastig, Fenster und Türen aufzureißen und mit Händen und Füßen zu kämpfen, als könne er so den drohenden Rauch höchst persönlich packen und des Hauses verweisen.
» Von Feuer speienden Bergen hab ich schon gelesen!«, lachte Kamura beim Betreten des Raumes. Und tatsächlich war Eladan in all dem dunklen Rauch kaum noch zu erkennen, gleich eines Rauch speienden Berges. Fluchend. Lachend.
Kamuras Ankunft brachte wie immer einen Hauch von Leichtigkeit in den Raum.
»Das heißt dann wohl, wir starten mal wieder ohne Essen ...«, scherzte er, seine Worte ein liebevoller Spott, der die angespannte Stimmung, die vor noch wenigen Augenblicken den Raum erfüllte, Lügen strafte.
Doch Eladan, nun beinahe wieder Herr der Lage, entgegnete schließlich entschlossen: »Oh... Nein, wartet ... Ich bereite euch wenigstens noch schnell etwas Felssaft zu.«, während er ein Stück Stoff Richtung Fenster wedelte und binnen Sekunden gleich eines starken Windstoßes alle Fremdkörper aus der Küchenluft verbannte. Er hatte im Eifer des Gefechts wohl entschieden, dass es das Beste sei, sein Hemd zu diesem Zweck zu opfern.
»Welch nobles Opfer! Hatte Ama dir das nicht erst letztens mitgebracht?«, forschte Kamura scharfsinnig, mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen.
»Ich mach's ja direkt danach wieder heil«, zwinkerte Eladan verschwörerisch.
»Du bist doch selbst schon viel zu spät. War die Pilz-Pfanne nicht auch für Ama gedacht? Warum bist du überhaupt noch hier?«, entgegnete Kamura.
»Na ja ... wir wollten abermals alles durchgehen für 'nen großen Handel heute und da -«
» ... sag mir nicht, dass das heute schon die zweite Fuhre ist!?«, lachte Kamura unbeschwert, während nun Taoh seinen Vater sorgenvoll und doch leicht amüsiert fixierte. »Scheint ja 'ne wichtige Nummer zu sein, oder warum bist du so durch den Wind?«
»Hmm ... also das mal da vor ... da war ich noch nicht ganz wach! Und ich habe heute scheinbar auch Besuch von einem Traumfänger gehabt.« Sein Lachen, ein verzweifelter Versuch, die durch Kummer erschlafften Augen zu verbergen, verlor sich schnell in den Schatten des Raumes, unfähig, den Schmerz, der hinter seiner Fassade brodelte, gänzlich zu verbergen. Eine dunkle Welle der Stille folgte seinem Lachen, füllte den Raum erneut mit einer Ernsthaftigkeit, die Vorahnungen von kommenden Prüfungen und Entscheidungen in sich trug.
Mit einer Ruhe, die die Stille der ewigen Dunkelheit widerspiegelte, wandte er seinen Blick auf die beiden Brüder. Seine Augen, tief und unergründlich, schienen eine Finsternis um ihn herum zu erwidern – wirkten, als suchten sie nach Antworten in den Tiefen der Seelen vor ihm.
»Sagt«, begann er schließlich, seine Stimme tief und resonant, plötzlich erfüllt von der Dringlichkeit eines Weisen. »Wenn ihr die Macht hättet, diese Welt zu wandeln, zu verbessern – würdet ihr es tun, selbst wenn es euch selbst oder euren Liebsten nicht zum Besten diente?«
Solcherlei Fragen waren für die beiden keinesfalls fremd, ihr Vater hatte gelegentlich eben jene kurzen Episoden, in welchen er den komplexen Gefilden seines Geistes Ausdruck zu verleihen suchte. Jedoch entfaltete sich die Eigenart der Frage dieses Mal mit einer merkwürdig präzisen Schärfe.
Taoh, dessen Augen noch die Unschuld der Jugend in sich trugen, stützte sein Gesicht in die Hände, als versuche er, die Schwere der Worte zu fassen. Doch diese schienen wie Schatten durch seine Finger zu gleiten, ungreifbar und doch allgegenwärtig.
» Ist es nicht noch ein wenig früh für solch schwere Gedanken, Aba?«, fragte Kamura schließlich, den Blick fest auf Taoh gerichtet.
Doch Eladan, unerschütterlich in seiner Suche nach Wahrheit, setzte sich stoisch auf den Tisch und fuhr fort:
»Wenn sie euch und andere in Gefahr bringen könnte, ist die Wahrheit diesen Preis dennoch wert?«, ein tiefer Seufzer entwich ihm, als würden die Worte selbst Gewicht auf seine Schultern legen. »Wenn die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen – wollt ihr dann nicht die wahre Gestalt der Welt erkennen, wenngleich dies alles, was ihr zu sein glaubt, verändern könnte?«
Kamura, das Herz ebenso kühn wie sein Geist, entgegnete mit einem Schmunzeln, das die Dunkelheit für einen Moment zu vertreiben vermochte:
»Natürlich wollen wir das! Und sollten die Dinge anders sein, als sie scheinen, so werden wir heute nicht nur überaus gesättigt sein, sondern auch auf dem Markt mit der Weisheit der Götter handeln!«
Und als hätte diese Worte der Leichtigkeit die Dämonen aus dem Raum verbannt, erlosch die Dunkelheit erneut aus Eladans Augen.
»Oh ja ... klar ... entschuldigt. Hier, nehmt ein paar extra Kristalle mit, holt euch zu essen, soviel ihr wollt. Geht auf mich, sagt Ama nichts ... Aber nur essen, verstanden ...? Ihr müsst auch los, sonst sind die besten Stände schon leer«, sprach er, während er ihnen die schimmernden Steine hervorholte.
In dem Augenblick, als Eladan die funkelnden Kristalle überreichte, erfüllte ein sanftes Glühen den Raum.
Kamura und Taoh tauschten einen Blick, der mehr sagte, als Worte es vermochten. Eine Mischung aus der Vorfreude auf die bevorstehenden Freuden des Tages und einer leisen Sorge um den geliebten Vater, der ihnen da gegenüberstand und doch so entfremdet wirkte. Doch dann riss Eladan sie aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart.
»Lasst uns vorher zusammen die Energie in die rechten Bahnen lenken und dann auf und davon!«
Mit diesen Worten, die wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit widerhallten, versammelten sich die Drei unter dem sanften Leuchten der Lumiflora.
Hand in Hand stehend, bildeten sie einen Kreis des Vertrauens und der unerschütterlichen Liebe, ein leuchtendes Symbol der Verbundenheit, das in der umgebenden Dunkelheit strahlte
»O Lichtbringer, der Du durch die Finsternis weisest,
Schütze uns auf unseren Wegen durch die ewige Nacht.
Vor dem Blauen Teufel, bewahre uns, führe uns fern von seiner Macht.
Dank sei Dir, Gaia, Mutter allen Seins. Dein Geist verbindet, lehrt und hält. Dein Körper, gibt uns Heim und Festigkeit, In deinem Schoße finden wir Schutz und unseren Platz in dieser Welt.
Dein feuriges Blut, in Leidenschaft und Kraft entfacht, Lehre uns, im Wandel Mut und Hoffnung zu bewahren.
Deine kristallklaren Augen schenken uns Weisheit, Klarheit, Sicht, In Deinem Licht erkennen wir die Pfade, die vor uns liegen, klar und wahr.
Deine Tränen, spenden Trost und heilen Schmerz, Erinnern uns an Deine Liebe, tief und unermesslich groß.
Dein Hauch, der seltene Wind, bringt uns Veränderung, bringt uns Neuigkeiterinnertrt uns, dass Du bei uns bist, in jedem Atemzug, in jeder Not.
Wir, Deine Kinder, geboren aus Deinem Schoß, Verpflichten uns, zu hüten, was Du uns gibst. Zu ehren Deine Gaben, zu schützen Dein Haus, In Dankbarkeit und Liebe, solange wie wir leben«
In der Stille, die auf das Gebet folgte, lag eine unbeschreibliche Kraft, eine Verbindung, die weit über das Sichtbare hinausging und sie an die ewigen Zyklen des Lebens und der Natur erinnerte. Es war ein Moment der Besinnung und der inneren Einkehr, der ihnen die Kraft gab, den Herausforderungen des Tages mit einem offenen Herzen und einem klaren Geist zu begegnen.
Mit dem Abschluss des Rituals, als die letzten Worte in der Stille verklungen waren, öffneten sie ihre Augen. Ein neues Licht erstrahlte in ihren Blicken, ein Spiegel der Stärke und der Hoffnung, die sie nun in sich trugen.
„Hör mal Taoh... deine Träume sind das Klangspiel deiner Seele, ein Vorspiel zu dem, was noch kommen mag. In dir fließt das Vermächtnis unserer Vorfahren, bereit, sich in unzähligen Formen zu manifestieren. Deine Mutter und ich, wir stehen hinter dir, fest verwurzelt in dem Glauben, dass du Berge versetzen kannst. Vergiss das niemals!"
Mit einem letzten, bekräftigenden Druck der Hände lösten sie den Kreis und traten hinaus in den Tag, bereit, den Abenteuern, die vor ihnen lagen, mit Mut und Zuversicht zu begegnen.